Frauensache Angela Merkel und die hohe Kunst des Abwarten-Könnens

Berlin · Über das Verhältnis der buddhagleich ruhig sitzenden Kanzlerin und ihres Koalitionspartners.

Ungeduld ist die als Laster getarnte Tugend der Moderne. Nach schlechten Eigenschaften gefragt, antworten 99 Prozent aller Prominenten, ob aus der Kunst-, Sport- oder Politikszene, sie seien oft zu ungeduldig. Es ist ja auch eine lässliche Sünde, ein Drängender und Nicht-still-Stehen-Wollender zu sein. In Abwandlung des von einem unbekannten Gefangenen im Londoner Tower an die Mauerwand gekritzelten Sinnspruchs: "Nicht das Unglück tötet uns, sondern die Ungeduld" gilt heute: "Nicht die Ungeduld tötet uns, sondern das Warten". In unserer hoch technisierten, vernetzten, Geheimnisse nicht mehr zulassenden Welt sind wir gefangen im Rausch der Geschwindigkeit des Meinens und Machens. Das Warten haben die meisten verlernt — der Abwartende und Abwägende ist deshalb eine einsame Seele.

So gesehen muss die Bundeskanzlerin sehr einsam sein. Als sie vergangene Woche gemeinsam mit Sigmar Gabriel und Horst Seehofer den Koalitionsvertrag vorstellte, sagte Angela Merkel: "Warten kann ich. Ich sitze ruhig und mache meine Arbeit." Mit diesen Worten kommentierte sie das ausstehende Mitgliedervotum der Sozialdemokraten über die große Koalition, zugleich waren sie aber auch eine treffende Beschreibung ihres Regierungsstils. Und den scheint das aktionsgewöhnte, ereignisgetriebene Publikum zu schätzen, wie das Bundestagswahlergebnis und die persönlichen Umfragewerte für Merkel zeigen. Offenbar ist gerade in einem Zustand der öffentlichen Dauererregung die Sehnsucht nach einer Politik groß, die Ruhe bewahrt.

Diese Sehnsucht erklärt wohl auch den Aufruhr, den das Interview zwischen der "Heute-Journal"-Moderatorin Marietta Slomka und SPD-Chef Sigmar Gabriel ausgelöst hat. Offenbar halten wir es nicht mehr aus, wenn zwei sich hart angehen. Seit Tagen tobt eine öffentliche Diskussion über dieses Gespräch, dabei ist nicht mehr passiert, als dass ein Politiker nicht in den üblichen Floskeln geantwortet und Nerven gezeigt hat und eine Journalistin ein wenig provoziert und nicht abgelassen hat. Zu viel für eine Demokratie, in der die buddhagleich ruhig sitzende Kanzlerin mit einer fast absoluten Mehrheit belohnt wird.

Dieses merkelhafte Abwarten-Können ist auch ein Grund, warum ihre bisherigen Koalitionspartner am Ende der Regierungszeit stets geschwächt und ausgelaugt waren. Vielleicht wird Sigmar Gabriel nach vier Jahren Gefangenschaft in der großen Koalition — ähnlich dem Mann im Londoner Tower — zum Abschied einen Sinnspruch an die Wand des Kanzleramts kritzeln, zum Beispiel frei nach Goethe: "Prüfungen erwarte bis zuletzt."

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(RP)
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