Vorwand für Annexion ukrainischer Gebiete Russische Besatzer sprechen von hoher Zustimmung bei Scheinreferenden

Update | Moskau · Unter internationalem Protest hat Moskau tagelang Scheinabstimmungen in besetzten ukrainischen Gebieten abhalten lassen. Nun dürfte eine beispiellose Annexionswelle folgen.

Ukraine-Krieg: Scheinreferenden in Luhansk, Donezk, Cherson & Co.
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So liefen die Scheinreferenden in den von Russland besetzten Gebieten

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Foto: dpa/Efrem Lukatsky

Die russischen Besatzer haben die Scheinreferenden in mehreren ukrainischen Gebieten für beendet erklärt und erste Ergebnisse der völkerrechtswidrigen Abstimmungen präsentiert. Nach russischer Darstellung kam dabei eine angeblich überwältigende Zustimmung der dortigen Bevölkerung zu einer Angliederung an Russland heraus.

Die Scheinreferenden werden weltweit nicht anerkannt, weil sie unter Verletzung ukrainischer und internationaler Gesetze und ohne demokratische Mindeststandards abgehalten wurden. Beobachter hatten in den vergangenen Tagen auf zahlreiche Fälle hingewiesen, in denen die ukrainischen Bewohner der besetzten Gebiete zum Urnengang gezwungen wurden. Oftmals gingen Soldaten von Tür zu Tür und sammelten die Unterschriften ein. Die Einwohner wurden gefragt, ob sie für einen Anschluss ihrer Region an Russland seien.

Diese Art von Abstimmungen wurden weithin als Vorwand für eine Annexion der Gebiete durch Russland gesehen. Die vier Regionen, wo die als Scheinabstimmungen kritisierten Referenden stattfanden, machen insgesamt etwa 15 Prozent des ukrainischen Territoriums aus.

Vom Kreml installierte Wahlbeamte meldeten am Dienstag eine Zustimmungsrate von 93 Prozent für die Region Saporischschja, 87 Prozent für Cherson, 98 Prozent für Luhansk und 99 Prozent in Donezk. Damit dürfte in den kommenden Tagen eine beispiellose Annexionswelle beginnen.

In einem nächsten Schritt wird erwartet, dass die von Moskau eingesetzten Besatzungsverwaltungen offiziell bei Kremlchef Wladimir Putin die Aufnahme in russisches Staatsgebiet beantragen. Der Kreml hatte mitgeteilt, dass dies schnell geschehen könnte. Putin hatte vor Beginn der Scheinreferenden betont, dass die Gebiete danach komplett unter dem Schutz der Atommacht Russland stünden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schloss Gespräche mit Russland im Falle einer Annexion von ukrainischen Gebieten aus. Entsprechende Versuche Moskaus würden bedeuten, „dass es mit diesem Präsidenten von Russland nichts zu bereden gibt“, sagte Selenskyj dem UN-Sicherheitsrat in einer Rede per Videolink aus Kiew. „Jegliche Annexion in der modernen Welt ist ein Verbrechen, ein Verbrechen gegen alle Staaten, die die Unantastbarkeit von Grenzen als wichtig für sie betrachten.“

Russland geht unterdessen nach den Worten seines UN-Botschafters von weiteren Referenden in der Ukraine aus. „Dieser Prozess wird weitergehen, wenn Kiew seine Fehler und seine strategischen Verfehlungen nicht erkennt und sich nicht von den Interessen seiner eigenen Leute leiten lässt“ und stattdessen blindlings den Willen jener ausführe, die sie manipulierten, sagte der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja am Dienstag bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates in New York.

Die Vorsitzende des russischen Föderationsrats, Valentina Matwijenko, erklärte kurz nach dem Ende der fünftägigen Scheinreferenden, das Oberhaus des Parlaments könnte am kommenden Dienstag über den Beitritt der besetzten ukrainischen Gebiete zu Russland entscheiden. An dem Tag sei die nächste planmäßige Sitzung angesetzt, sagte Matwijenko nach Angaben russischer Agenturen. Es bestehe bisher keine Notwendigkeit, Sondersitzungen anzuberaumen.

Zuvor war in Medien spekuliert worden, Putin könnte schon an diesem Freitag in einer Rede vor beiden Kammern des russischen Parlaments die Annexion der vier Gebiete im Osten und Süden der Ukraine formell bekanntgeben.

Dann wäre die ukrainische Offensive zur weiteren Rückeroberung ihrer Gebiete in Augen Moskaus ein Angriff auf Russland. Vergangene Woche erklärte Putin, er sei bereit, Atomwaffen einzusetzen, um die „territoriale Integrität“ Russlands zu verteidigen. Auch Medwedew sprach am Dienstag eine neue nukleare Drohung an die Ukraine und den Westen aus. Der ukrainische Präsidialamtsberater Mychailo Podolyak sagte, die Regierung in Kiew werde sich weder durch nukleare Drohungen noch durch die Abstimmung über die Annexion beirren lassen und die Rückeroberung aller von den russischen Streitkräften besetzten Gebiete weiterverfolgen.

Einem Zeitungsbericht zufolge hat Russland unterdessen schon konkrete Pläne für die Einverleibung der ukrainischen Gebiete: Geplant sei die Bildung eines neuen föderalen „Krimbezirks“, berichtete die russische Zeitung „Wedomosti“ unter Berufung auf Quellen im Föderationsrat. Dieser Bezirk solle die bereits 2014 annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim sowie die besetzten Teile der Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk umfassen.

Neuer Verwaltungschef solle demnach Dmitri Rogosin werden, der im Juli als Chef der Raumfahrtbehörde Roskosmos abgelöst worden war, hieß es weiter. Schon im Juli hatten Medien spekuliert, der Hardliner und Nationalist könnte einer der Kreml-Kuratoren in den Separatistengebieten Donezk oder Luhansk im Osten der Ukraine werden.

Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte dazu auf Fragen von Journalisten, wenn Entscheidungen zur Gründung eines neuen föderalen Bezirks getroffen würden, werde der Kreml darüber informieren. „Wir kündigen solche Dekrete des Präsidenten oder Personalentscheidungen nie an“, zitierte ihn die Agentur Interfax. Das Rechtssystem und die Exekutive seien aber bereit, nach den Abstimmungen in den Gebieten neue Subjekte in die Föderation aufzunehmen. Juristisch und aus Sicht des internationalen Rechts werde sich die Situation „kardinal“ ändern.

(peng/mzu/dpa/Reuters)
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