Nach Angriffen auf Israel aus Gaza Haus von Hamas-Chef beschossen – Palästinenser melden Dutzende Tote

Tel Aviv/Gaza · Die Menschen in Israel und Gaza haben erneut eine unruhige Nacht erlebt: Die radikal-islamische Hamas feuerte weitere Raketen auf Israel. Dessen Luftwaffe droht der Führung der Palästinenserorganisation derweil mit gezielter Tötung. Entspannung ist nicht in Sicht.

Dieses Bild aus der Nacht zeigt, wie das israelische Raketenabwehrsystem (links) Flugkörper der Hamas (rechts) in Richtung Südisrael abfängt.

Dieses Bild aus der Nacht zeigt, wie das israelische Raketenabwehrsystem (links) Flugkörper der Hamas (rechts) in Richtung Südisrael abfängt.

Foto: AFP/ANAS BABA

Nach dem massiven Raketenangriff militanter Palästinenser auf den Großraum Tel Aviv hat Israels Militär seine Attacken auf ranghohe Hamas-Mitglieder verstärkt. Die Luftwaffe habe die Häuser von Raed Saad, Hamas-Chef für Spezialeinsätze, sowie zweier Hamas-Kommandeure in Chan Junis im Süden und Dir el-Balach im mittleren Abschnitt des Gazastreifens beschossen, teilte die Armee am späten Samstagabend mit. Am Sonntagmorgen beschoss die isralische Armee nach eigenen Angaben zudem das Haus des Hamas-Chefs Jihia al-Sinwar. Dazu veröffentlichte sie auch ein Video auf Twitter.

Das Gebäude in Chan Junis im Süden des Küstengebiets habe als „militärische Infrastruktur der Terrororganisation Hamas“ gedient, teilte die israelische Armee am Sonntag mit. Auch das Haus von Al-Sinwars Bruder Mohammed, ebenfalls ein ranghohes Mitglied der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas, sei angegriffen worden.

Nach Angaben der Armee wurden weitere Büros und Häuser wichtiger Hamas-Mitglieder attackiert. Als Teil der fortwährenden Angriffe auf das unterirdische Tunnelnetzwerk der Hamas, der sogenannten Metro, seien 30 weitere Ziele bombardiert worden. Außerdem habe die Luftwaffe Dutzende Waffenlager und Raketenabschussrampen beschossen. Binnen 24 Stunden habe die Luftwaffe 90 Ziele militanter Palästinenser attackiert. Nach palästinensischen Angaben waren es die bisher schwersten Luftangriffe im Gazastreifen. In der Stadt Gaza wurden nach Augenzeugenberichten fünf Häuser zerstört. Palästinensischen Angaben zufolge kamen mindestens 26 Menschen ums Leben. Das Gesundheitsministerium des Gazastreifens sprach von zudem 50 Verletzten. Unter den Toten seien zehn Frauen und acht Kinder.

Israels Militär hatte der Führungsriege der im Gazastreifen herrschenden Palästinenserorganisation Hamas zuvor mit gezielter Tötung gedroht.

In der Nacht zu Sonntag feuerte die Palästinenserorganisation Hamas nach Angaben des israelischen Militärs weitere Raketen auf Israel ab. Ein „schwerer Hagel von Raketen“ sei vom Gazastreifen aus auf die Mitte und den Süden Israels abgeschossen worden, twitterte die Armee. Männer, Frauen, Kinder und ältere Menschen befänden sich in Bunkern. Zuvor hatte ein Sprecher des militärischen Hamas-Arms gedroht, von Mitternacht an erneut Raketen auf Tel Aviv zu feuern.

Am Samstag hatten militante Palästinenser im Gazastreifen bereits drei Mal kurz hintereinander Raketen auf die Küstenmetropole Tel Aviv geschossen. In der Nachbarstadt Ramat Gan starb nach Angaben von Sanitätern ein etwa 50 Jahre alter Mann beim Einschlag einer Rakete. Nach Angaben der österreichischen Botschafterin in Israel, Hannah Liko, schlug die Rakete unweit der diplomatischen Vertretung ein.

Israels Luftwaffe zerstörte kurz darauf nach Angaben eines dpa-Reporters ein 14-stöckiges Hochhaus im Gazastreifen, in dem Medienunternehmen wie Associated Press (AP) ihre Büros hatten. Berichten zufolge wurden die Bewohner zuvor telefonisch aufgefordert, das Gebäude zu verlassen. Die Nachrichtenagentur AP reagierte entsetzt. „Das ist eine unglaublich beunruhigende Entwicklung“, teilte AP-Präsident Gary Pruitt am Samstag in New York mit. „Wir sind nur knapp einem schrecklichen Verlust von Menschenleben entgangen.“ Ein Dutzend AP-Journalisten und freie Mitarbeiter sei rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden.

UN-Generalsekretär António Guterres reagierte bestürzt auf den israelischen Angriff. Sein Sprecher Stephane Dujarric teilte in New York mit, Guterres sei „zutiefst beunruhigt über die Zerstörung eines Hochhauses in Gaza-Stadt durch einen israelischen Luftangriff, in dem sich die Büros mehrerer internationaler Medienorganisationen sowie Wohnungen befanden“. Er sei zudem bestürzt über die steigende Zahl von zivilen Opfern, einschließlich des Todes von zehn Mitgliedern einer Familie, darunter Kinder, nach einem israelischen Luftangriff auf das Flüchtlingslager Schati im Westen von Gaza. Er erinnere alle Seiten daran, jeder willkürliche Angriff auf zivile und mediale Strukturen verstoße gegen das Völkerrecht.

Es war das fünfte Hochhaus, das Israels Armee seit Beginn der jüngsten Eskalation am Montag zum Einsturz bringt. Den Angaben zufolge hatte auch der katarische TV-Sender Al-Dschasira (Al-Jazeera) ein Büro in dem zuletzt zerstörten Gebäude. Die israelische Armee teilte bei Twitter mit, Kampfjets hätten ein Hochhaus angegriffen, in dem der Militärgeheimdienst der islamistischen Hamas über „militärische Ressourcen“ verfügt habe.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Donnerstag bei einem Treffen mit der Grenzpolizei seines Landes.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Donnerstag bei einem Treffen mit der Grenzpolizei seines Landes.

Foto: dpa/Yuval Chen

Ein Sprecher des militärischen Hamas-Arms drohte Tel Aviv daraufhin mit einer „Antwort, die die Erde erschüttern lässt“. Ein schnelles Ende des Konflikts scheint fern. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte, der Militäreinsatz gegen die Hamas werde „so lange wie nötig weitergehen“. Man müsse zunächst die Infrastruktur der islamistischen Hamas zerstören. „Uns stehen noch schwere Tage bevor, aber wir werden sie gemeinsam durchstehen und siegen“, sagte der 71-Jährige.

Die Hamas hat nach Angaben eines israelischen Luftwaffenoffiziers seit Montag mehr als 2300 Raketen auf Israel abgefeuert. Israel habe im gleichen Zeitraum mehr als 650 Ziele im Gazastreifen angegriffen. Der Konflikt zwischen Israel und der im Gazastreifen herrschenden Hamas war zu Wochenbeginn eskaliert. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden seitdem 174 Menschen getötet, darunter 47 Kinder. Wie der Rettungsdienst Magen David Adom mitteilte, kamen in Israel durch den Raketenbeschuss der vergangenen Tage zehn Menschen ums Leben, 636 wurden verletzt.

Angesichts der Gewalt telefonierte US-Präsident Joe Biden mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Das Weiße Haus teilte zu dem Gespräch mit Netanjahu mit: „Der Präsident bekräftigte seine nachdrückliche Unterstützung für das Recht Israels, sich gegen die Raketenangriffe der Hamas und anderer terroristischer Gruppen im Gazastreifen zu verteidigen.“

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am Mittwoch.

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am Mittwoch.

Foto: AFP/ABBAS MOMANI

Biden habe seine Besorgnis über die Sicherheit von Journalisten zum Ausdruck gebracht und die Notwendigkeit betont, deren Schutz zu gewährleisten. Biden habe Abbas über das diplomatische Engagement der USA im laufenden Konflikt informiert. Biden habe zudem betont, die Hamas müsse den Raketenbeschuss auf Israel einstellen. Biden und Abbas hätten ihre Sorge über den Tod unschuldiger Zivilisten zum Ausdruck gebracht.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) forderte erneut Schritte zur Deeskalation. „Israel macht von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch, um seine Bevölkerung vor dem Raketenterror der Hamas zu schützen“, sagte der SPD-Politiker der „Bild am Sonntag“. „Umso dringender braucht es nun: erstens einen Stopp des Raketenterrors, zweitens ein Ende der Gewalt und drittens die Rückkehr zu Gesprächen über konkrete vertrauensbildende Schritte zwischen Israelis und Palästinensern und eine Zweistaatenlösung.“

Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, forderte die Bundesregierung dazu auf, intensiver zu vermitteln. Intensive Telefondiplomatie und der Einsatz von Sonderemissären seien gefragt, sagte sie der „Bild am Sonntag“. „Zudem sollten hochrangige Vertreter der Bundesregierung in die Region entsandt werden, um mit engen Verbündeten ein sofortiges Ende der Gewalt zu vermitteln.“ Die Sicherheit Israels sei Teil deutscher Staatsräson, betonte sie. „Wir können den abscheulichen Angriffen der Hamas nicht einfach zusehen.“

Die EU-Außenminister kommen am Dienstag zu einer Krisensitzung zusammen. Bei der Videokonferenz werde es darum gehen, wie „die EU am besten zu einem Ende der derzeitigen Gewalt beitragen“ könne, teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Sonntag bei Twitter mit. Die Zahl der zivilen Opfer durch die gegenseitigen Angriffe bezeichnete er als „inakzeptabel“.

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hatte sich während des muslimischen Fastenmonats Ramadan und nach der Absage der palästinensischen Parlamentswahl zugespitzt. Als Auslöser gelten etwa Polizei-Absperrungen in der Jerusalemer Altstadt, die viele junge Palästinenser als Demütigung empfanden.

Hinzu kamen Auseinandersetzungen von Palästinensern und israelischen Siedlern im Jerusalemer Viertel Scheich Dscharrah wegen drohender Zwangsräumungen sowie heftige Zusammenstöße auf dem Tempelberg (Al-Haram al-Scharif). Die Anlage mit Felsendom und Al-Aksa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Die islamistische Hamas hat sich zum Verteidiger Jerusalems erklärt.

Die Palästinenser gedachten am Samstag, dem Tag der Nakba (Katastrophe), der Vertreibung und Flucht Hunderttausender Palästinenser im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948. Rund 500 Menschen demonstrierten in Ramallah im Westjordanland. Sie schwenkten dabei palästinensische und schwarze Flaggen.

Bei Protesten im Südlibanon an der Grenze zu Israel kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und israelischen Sicherheitskräften. Diese feuerten Augenzeugen zufolge Tränengas auf mehrere Menschen, die sich dem Grenzzaun näherten. Truppen der libanesischen Armee versuchten ebenfalls, die Demonstranten vom Zaun zu vertreiben. Zu den Protesten erschienen Palästinenser und Anhänger der libanesischen Hisbollah.

(hebu/dpa/AFP/AP)
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