WM-Auftakt am Wochenende Fußball als Familiendebatte

Meinung · Soll man mit Kindern über Menschenrechte in Katar sprechen? Panini-Sammel-Alben zum Politikum erklären? Oder sollten Eltern den Jüngsten einfach die Freude am Sport lassen? Eindeutige Antworten sind schwierig.

Das große Sammeln geht auch in diesem Jahr los – mit dem Panini-Stickeralbum zur WM in Katar.

Das große Sammeln geht auch in diesem Jahr los – mit dem Panini-Stickeralbum zur WM in Katar.

Foto: dpa/Marijan Murat

Wenn der Ball beim ersten Spiel der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft am Wochenende über den Rasen rollt, ist es in Deutschland gerade Sonntagnachmittag, eine klassische Familienzeit. Zwar ist es (noch) nicht die deutsche Nationalmannschaft, sondern die des Gastgebers Katar, die zum Auftakt gegen Ecuador antritt. Bilder und Berichte davon werden dennoch über diverse Bildschirme flimmern, Gespräche an Glühweinständen stattfinden, Tippwetten abgegeben. Und in vielen heimischen Wohnzimmern wird es – spätestens zum Spiel der Nationalelf am Dienstag – um die eine entscheidende Frage gehen: einschalten oder nicht?

Wenn Freizeitvergnügen zur Gewissensfrage wird, muss das nichts Schlechtes bedeuten. Eine immer komplexere Weltlage, multiple globale Krisensituationen nicht nur durch Corona und Krieg, zählen zu den Herausforderungen dieser Zeit. Darüber zu reflektieren, seine eigene Rolle zu hinterfragen, oder sich all dem wenigstens bewusst zu sein, kann helfen, sich zurechtzufinden, sich zu positionieren. Ist aber auch anstrengend, zeitraubend – und kann unbequem werden – gerade im Familienumfeld.

Soll ich noch FFP2-Maske tragen? Lebe ich lieber vegetarisch oder sogar vegan? Und schaue ich nun die WM in Katar?, sind berechtigte Fragen, die einen eben nicht mehr nur selbst berühren, sobald man (kleine) Kinder hat. Dabei muss es gar nicht um Verbote oder Vorhaltungen gehen, es fängt schon mit der unausweichlichen Rolle an, die Eltern nun einmal innehaben: Sie sind Vorbilder und Erziehungspersonen, moralische Fixpunkte und Entscheidungsträger, gänzlich ignorieren können die meisten solche Lebensfragen jedenfalls nicht.

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Foto: AFP/INA FASSBENDER

„Ich habe heute meinem Sohn ein Panini-Fußball-Album zur WM gekauft – trotz Katar“, schreibt der Blogger und Autor Richard Gutjahr dieser Tage auf Facebook. „Er liebt Fußball und ich liebe ihn. Er ist 11 und ich denke, bei der nächsten WM in vier Jahren interessiert er sich mehr für Mädchen.“ Ob er sich dieses Mal noch nur für Tore, nicht für Weltpolitik begeistern dürfe, fragt der Familienvater, im Sinne der ungestörten Freude am Turnier als solches.

Reden würde die Familie über Menschenrechte schon, trotzdem: Ob das „die richtige Entscheidung“ ist? Die Antwort darauf kann nur lauten: Es gibt keine eindeutige.

Für beide Haltungen gibt es gute Gründe, die je nach Alter und Entwicklungsstand der Kinder variieren, ja im Grunde komplett individuell zu werten sind. In manchen Familien mag – vielleicht auch aus der eigenen Historie heraus – Politik eine große Rolle spielen, in anderen wiederum Sport. Beides kann und sollte vielleicht zumindest zeitweise getrennt betrachtet werden. Beides hat seine Berechtigung. Natürlich ist es nicht falsch, Kindern die Hintergründe des Turniers zu erklären, die dunkle Seite des schimmernden Events, die Missstände in Katar, ja im gesamten Weltfußballverband Fifa zu umreißen. Kind- und altersgerecht versteht sich. Falsch wäre allerdings, das so unsensibel, undifferenziert und unerbittlich zu tun, dass es Kindern und Jugendlichen die Begeisterung an dem Ballsport nimmt.

Fakt ist auch: Das Vereinswesen in Deutschland leidet, und, viel wichtiger, durch die Pandemiejahre auch das Sozialleben der Jüngsten. Fußball aufgrund seines Systemes zu verdammen, hätte die falsche Wirkung. Schlimmstenfalls das Ersticken einer Leidenschaft, die neben Fitness und Gesundheit Kindern oft Freundschaften fürs Leben einbringt. Zumal es in ländlichen Regionen oft kaum Alternativen zu Fußballvereinen gibt.

Den Fernseher für die nächsten Wochen ausgeschaltet zu lassen, bringt leider kein Menschenleben zurück. 6500 Arbeiter haben offiziell ihr Leben in Katar für diese WM gelassen, rund 100 pro WM-Spiel, oder anders gesagt: Jede Spielminute ist ein Mensch gestorben. Vielleicht sind es Anmerkungen wie diese, die die Schattenseite der schönen Fußballwelt deutlich machen können. Boykott allein bringt keine Einsicht, und auch Panini-Hefte sollten nicht zum Politikum werden. Interesse sorgt für Aufmerksamkeit, das ist auch bei Kindern so, und Aufmerksamkeit für Offenheit.

Es wird vielleicht mehr Fragen geben und weniger eindeutige Antworten. Familien sollten sich dem ruhig stellen.

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