Hamminkeln Reise in die Geschichte einer jüdischen Familie

Hamminkeln · Sierra Terhoch (21) aus Vancouver besuchte das Humberghaus in Dingden, wo ihre Urgroßmutter Frieda aufgewachsen ist.

 Sierra Terhoch (l.) und Anne Hoffmann schauen sich das Fahrrad an, mit dem ihr Großonkel Ernst Humberg von Brünen aus vor den Nazis geflohen war. Ihr Opa Kurt hat's mit nach Kanada gebracht. Heute steht es im Humberghaus.

Sierra Terhoch (l.) und Anne Hoffmann schauen sich das Fahrrad an, mit dem ihr Großonkel Ernst Humberg von Brünen aus vor den Nazis geflohen war. Ihr Opa Kurt hat's mit nach Kanada gebracht. Heute steht es im Humberghaus.

Foto: Malz

Vancouver ist weit weg von Dingden. Und von der Lebenswirklichkeit einer 21-jährigen Kanadierin liegt die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten mindestens noch mal so weit entfernt. Sierra Terhoch hat die weite Reise angetreten. Und dabei eine wichtige Lücke geschlossen. Die hat sie dahin geführt, wo einst ihr Großvater Kurt Terhoch gelebt hat. Der Jude aus dem münsterländischen Ramsdorf war 1937 vor der Verfolgung durch die Nazis in die Niederlande emigriert und wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges mit seinem Eltern Adolf und Frieda, eines von sechs Kinder der Familie Humberg aus Dingden, auf dem Schiff "Dutches of York" nach Kanada geflohen.

Ein Nachbau der großen Kiste, in der die Terhochs damals ihr Hab und Gut mit in die neue Heimat genommen haben, ist im Dingdener Humberghaus zu sehen. Das hat der Heimatverein, der die Geschichte der jüdischen Familie Humberg erforscht hat, als Erinnerungsstätte ausgebaut. Dafür ist die Soziologiestudentin sehr dankbar.

"Es ist bewundernswert, dass sich Menschen in Deutschland ausgerechnet für die Geschichte meiner Familie interessieren und so wahnsinnig viel Arbeit investiert haben", sagte sie. Nur so sei es ihr möglich, vieles besser zu verstehen, was ihr sonst für immer verborgen geblieben wäre. Und was von Generation zu Generation weitergegeben worden sei.

Vieles von dem, was sie auf ihrer Reise, die sich auch nach Israel und Berlin geführt hat, erfahren habe, müsse sie zwar noch verarbeiten. Aber das Verständnis für das, was damals geschehen sei, wachse. "Hier begreife ich, das alles, was mir meine Familie erzählt hat, Wirklichkeit ist. Das ist für mich Geschichte zum Anfassen, die weit mehr berührt als nackte Zahlen, die auch Schülern in Kanada meist im Geschichtsunterricht begegnen", sagte sie gestern im Heimathaus. Auch ihre Mutter und ihr Bruder haben Dingden schon besucht. Und ihr Opa Kurt, der sich hier wieder mit Deutschland versöhnt habe.

Bewegend war vor allem das Treffen mit zwei alten Frauen in Ramsdorf, die Opa Kurt und ihre Urgroßeltern als Kinder noch erlebt haben. Die Schwestern vom kleinen Franz, dem sein Großvater immer Geld in die Socken gestrickt hatte, wenn es über die Grenze in die Niederlande ging, wo die Terhochs im Exil lebten. "Franz hat nie verstanden, warum er hinter der Grenze seine Socken tauschen musste", erzählt Ulrich Bauhaus vom Heimatverein. Sierra Terhoch hat verstanden, dass es damals auch Leute gab, die ihrer Familie geholfen haben. Das wurde beim Treffen in Ramsdorf gefeiert. Mit einem westfälischen Schnaps und ein paar plattdeutschen Liedern. "Es sind Tränen geflossen", so Bauhaus. Wie bei einem glücklichen Wiedersehen - nach einer kleinen Ewigkeit.

(RP)
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