Professor Dr. Horst Siebert, Institut für Weltwirtschaft Die Deutschen sind immer noch zu unbeweglich

Von Chris Stoffels

Von Chris Stoffels

Der Standort Deutschland im Gefüge der Weltwirtschaft ist eines der Themen des NGZ-Gespräches mit Professor Dr. Horst Siebert, Präsident des Institutes für Weltwirtschaft in Kiel, einer der "Fünf Weisen" zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und einer der renommiertesten Volkswirtschaftler in Deutschland. Professor Siebert beleuchtet die Risiken und Chancen der deutschen Wirtschaft im globalen Wettbewerb, und nimmt kritisch Stellung zur deutschen Wirtschaftspolitik, insbesondere zu den Anstrengungen für die Steuer- und Sozialreform sowie den Regelwerken im Bereich der Arbeit. Das Gespräch mit Professor Siebert führten die NGZ-Redakteure Rolf Hoppe und Chris Stoffels.

Herr Professor Siebert, wie sehen Sie zurzeit generell das Verhältnis von Deutschland zur Weltwirtschaft, wo liegen die stärksten Probleme?

Siebert: Die Weltwirtschaft verändert sich massiv. Die Marktschranken werden zunehmend abgebaut, neue Regionen und Staaten wie China mit 1,3 Milliarden Menschen treten in die Weltwirtschaft ein. Wir haben neue Technologien wie das Internet. Das heißt, die Welt rückt zusammen. Die Frage ist, wie sich ein so exportabhängiges Land wie Deutschland, das ein Drittel seines Brutto-Sozialproduktes im Außenhandel erwirtschaftet, darauf einstellt.

Wie kann sich die deutsche Wirtschaft darauf einrichten?

Siebert: In Deutschland müssen die Rahmenbedingungen so gesetzt werden, dass wir von dieser internationalen Arbeitsteilung einen möglichst hohen Nutzen ziehen. Wir haben in den vergangenen 50 Jahren erhebliche Vorteile davon gehabt, und auch aus der Europäischen Union erzielen wir unseren Wohlstand. Aber wir müssen sehen, dass auch erhebliche strukturelle Anpassungen erforderlich sind, um in der Weltwirtschaft mithalten zu können. Wir dürfen nicht an den alten Dingen kleben bleiben, sondern müssen auch den Weg für das Neue bereiten.

Hat sich dieses Bild für Deutschland gebessert, seitdem die Standort- Debatte im Gange ist?

Siebert: Man muss in dieser Frage differenzieren: Die Unternehmen haben sich auf den internationalen Wettbewerb ohnehin eingestellt. Sie haben sich in den neunziger Jahren fit gemacht — auf Kosten von Arbeitsplätzen. In der westdeutschen Industrie gingen etwa 1,7 Millionen Arbeitsplätze verloren. Der sinnvollere Weg für Unternehmen ist sicherlich eine Innovations-Strategie, das heißt, mit den neuesten Produkten auf dem Markt zu sein. In einigen Bereichen, wie zum Beispiel in der Automobil-Industrie, haben wir es auch geschafft, mit modernen Produkten Spitze zu sein. In vielen High-Tech-Bereichen sind wir allerdings nicht so stark, zum Beispiel in der neuen Technologie des Internet und in der Bio-Gen-Technologie.

Wie hat sich die deutsche Wirtschaftspolitik auf diesen Wandel eingestellt?

Siebert: Bei den Rahmenbedingungen für die deutsche Wirtschaft gibt es noch erhebliche strukturelle Schwächen. Ein Problem dabei ist eine verblüffend niedrige Wachstumsrate von 1,5 Prozent pro Jahr in den vergangenen fünf Jahren. Zum Vergleich: Die USA hatten ein Wachstum von vier Prozent. Wir hatten in diesen fünf Jahren auch eine starke Investitionsschwäche mit Zuwachsraten bei den Investitionen von 2,6 Prozent, die USA liegen um das Vierfache höher. Das bedeutet, dass die Arbeitnehmer dort wesentlich besser mit Kapital und Technik ausgestattet werden als hier. Hinzu kommt in Deutschland das große Problem der sozialen Sicherungssysteme, die in der heutigen Form mit der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft nicht finanzierbar sein werden. Wir haben schließlich ein Regelwerk für den Bereich der Arbeit, das systematisch falsch steuert. Denn in jeder der drei Rezessionen der 70er, 80er und 90er Jahre sind in Deutschland jeweils rund eine Million Arbeitslose hinzu gekommen, ohne dass die Arbeitslosigkeit danach in den besseren Jahren wieder nennenswert zurückgegangen wäre. Das sind die drei großen Problemblöcke der deutschen Wirtschaft.

Wie stellt sich die deutsche Wirtschaftspolitik diesen Problemen?

Siebert: Angegangen wird mit der Steuerreform zurzeit offenbar das Problem der Investitionsschwäche. Für die anderen Bereiche, Rentenreform und das Regelwerk der Arbeit, sehe ich noch keinen Durchbruch.

Die Bundesregierung behauptet, sie setze die richtigen Signale für die Wirtschaft. Sehen Sie das auch so?

Siebert: Vor einem Jahr noch haben wir eine völlig andere Wirtschaftspolitik mit einer Stärkung ausschließlich der Nachfrageseite und der Förderung nach der Stärkung des Konsums erlebt. Der heutige Kurs der Konsolidierung ist besser und der richtige Weg.

Die Wachstumsrate für dieses Jahr werden von Ihrem Institut mit 2,5 Prozent angegeben. Ist dieses Wachstum Folge der Wirtschaftspolitik?

Siebert: Nein, das lässt sich so darauf nicht zurückführen. Bei den Prognosen kommen immer einige Aspekte zusammen. So zum Beispiel die weltwirtschaftliche Entwicklung, die um einiges günstiger liegt, der Welthandel expandiert stärker, die Krisen in Asien und in Lateinamerika sind überwunden — die internationale Konjunktur läuft stärker. Von daher ist das internationale Umfeld für ein Wachstum wesentlich besser. Was die Rahmenbedingungen anbelangt, so herrscht in erster Linie noch Unsicherheit, wie die Steuerreform aussehen wird.

Halten Sie das angedachte Modell der Steuerreform für ausreichend?

Siebert: Auch hier muss man differenzieren. Die Steuerreform ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung in dem Sinne, dass die Investitionen in den Unternehmen begünstigt werden. Man muss allerdings gegenrechnen, dass die Abschreibungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. So werden wahrscheinlich in einigen Bereichen wegen der längeren Abschreibungsfristen die effektiven Steuersätze sogar steigen. Es gibt aber auch Probleme bei der Steuerreform, die wir unter dem Stichwort "Verzerrung" zusammenfassen. Sie ist angelegt auf Kapital-Gesellschaften, also AG und GmbH. 85 Prozent der Unternehmen in Deutschland sind aber Personen-Gesellschaften. Die Frage ist, ob und wie die Vergünstigungen für die Kapital- auch auf die Personen-Gesellschaften anwendbar sind.

Welche Lösung könnten Sie sich dabei vorstellen?

Siebert: Es gibt die Vorstellung der Optionslösung. Da hängen dann aber weitere Fragen wie die Erbschaftssteuer und ähnliches dran. Es ist meines Erachtens offen, ob das so perfekt funktioniert. So zum Beispiel ergeben sich Probleme, wenn man fünf Jahre im voraus festlegen muss, wie man besteuert werden soll. Das würde eine sehr schwierige Prognose für fünf Jahre beinhalten. Und daraus ergeben sich weitere Unsicherheiten und Komplikationen. Hinzu kommt, dass die steuerliche Interessenlage in der Personengesellschaft sehr unterschiedlich sein kann, da verschiedene Steuersätze für die Einzelpersonen gelten.

Wie sehen Sie die Wirkung der Steuerreform für Existenzgründer?

Siebert: Das zweite Problem bei der Steuerreform ist, dass die Selbstfinanzierung stark gefördert wird, also Anreize geschaffen werden, das Kapital in den Unternehmen zu behalten. Das können aber nur die bestehenden Unternehmen. Von daher ist diese Lösung gründerfeindlich. Damit dient sie nicht der Modernisierung und Verjüngung der Volkswirtschaft.

Vielfach kritisiert wird die unterschiedliche Besteuerung von Unternehmen und Personen. Was sagen Sie dazu?

Siebert: Das ist ein weiteres Problem bei der Steuerreform. Wenn man die Leistungsbereitschaft der Menschen fördern will, ist die Unterscheidung zwischen Unternehmen und Unternehmer willkürlich und durch nichts gerechtfertigt. Und schließlich ist es eine Bevorzugung des Sachkapitals und eine Benachteiligung des Humankapitals. Wir gehen aber heute davon aus, dass Wachstum überwiegend von Humankapital hervorgebracht wird. Insbesondere der zukunftsträchtige Informations- und Kommunikationsbereich stützt sich auf Humankapital.

Wie könnten diese Probleme ausgeräumt werden?

Siebert: Ich plädiere dafür, die Steuersätze in beiden Bereichen einander anzugleichen. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass jede Spaltung von Steuersätzen zu Ausweichverhalten der Steuerpflichtigen führt. Und damit ist nun wirklich niemandem gedient.

Reicht denn der Umfang der geplanten Steuerreform aus?

Siebert: Das jetzt geplante Paket ist ein beachtlicher Schritt, bei dem sich etwas bewegen kann. Das lässt sich auch in der Anlage über mehrere Jahre durchaus vertreten.

Inwieweit kann Politik überhaupt für das Florieren der Wirtschaft überhaupt etwas bewirken?

Siebert: Politik ist wichtig, sie kann entscheidend die Rahmenbedingungen setzen und von daher die Wirtschaft beeinflussen und steuern. Und sie hat zum Beispiel die Hoheit über das Ausbildungssystem. Mit dem Dualen System haben wir auf diesem Sektor ein System, das in Ordnung ist und im Vergleich zu anderen Ländern gut funktioniert, wenn es auch manchmal etwas behäbig ist. Das größte Problem sind die Universitäten. Das ganze System Universität steuern wir planerisch und administrativ mit Soll-Größen und ähnlichem, aber nicht mit dem Wettbewerb. Wir wagen es nicht, dieses System durch Wettbewerb zu organisieren.

Bedeuet diese Forderung auch gleichzeitig strengere Zulassungsbestimmungen für die Universitäten?

Siebert: Das bedeutet einen strengeren Wettbewerb für die Studenten, unter den Professoren und zwischen den Universitäten. Dann muss die Politik aber völlig umdenken.

Dieses Zögern und Schielen auf die Administration, ist das nicht zu einem generellen Merkmal deutscher Politik geworden?

Siebert: Im Prinzip sind wir sehr wenig beweglich. Der Status quo spielt in der Konsens-Gesellschaft offenbar eine große Rolle. Die Überlegungen "Wo sind Chancen, wie kann ich sie nutzen?" sind in Deutschland insgesamt nicht sehr ausgeprägt. Erst in jüngster Zeit entwickeln mehr junge Leute Ideen und setzen diese in Unternehmen erfolgreich um.

Wird in Deutschland zu wenig geforscht?

Siebert: Ich glaube, dass für den Universitätsbereich weithin die Philosophie vertreten wird, dass es keine Eliten geben darf, dass vieles nivelliert werden muss. Und das stößt sich in der Tat mit diesen weltwirtschaftlichen Veränderungen. Wer bei sich zu Hause nivelliert, der bleibt international zurück.

Zurück zu Deutschland und der Weltwirtschaft. Wie hat sich die Wiedervereinigung nach ihren Erfahrungen ausgewirkt?

Siebert: Die Wiedervereinigung erforderte zunächst Investitionsmittel, aber sie bot auch die Chance eines, auch institutionellen, Neuaufbaus, die wir nicht genutzt haben. Einen Weg zu finden, der besagt hätte, jetzt probieren wir in Ostdeutschland einmal etwas anderes, wurde nicht gewagt. Dazu waren wir Deutschen offenbar nicht flexibel genug.

Lässt sich das Rad in den neuen Ländern heute noch umdrehen?

Siebert: Nein. Jetzt müssen wir Deutschland insgesamt modernisieren. Was den Finanzausgleich betrifft, so ist der Nivellierungsgedanke falsch. Man muss aus den Köpfen bekommen, dass man überall das gleiche Niveau erreichen kann und will.

Vor einem Jahr wurden große Hoffnungen in den Euro gesetzt. Jetzt steht er im Tief. Wie kann man dem Bürger das erklären?

Siebert: Den Bürgern muss man deutlich machen, dass die Europäische Zentralbank auf den Binnenwert des Euro setzen muss und keine Wechselkurs- Politik betreiben kann. Sie kann nicht gleichzeitig zwei nominale Anker haben. Vom Binnenwert her ist der Euro stabil. Ich habe nie zu denjenigen gehört, die eine Welle der Euphorie mitgetragen haben. Ich habe schon bei der der deutsch-deutschen Währungs-Union gesagt, es werde nur ein Ölwechsel vorgenommen, sie schafft keine neue Wirtschafts-Maschine. Der Euro hat nach wie vor die Chance, zusammen mit dem Dollar eine Leitwährung der Welt zu werden.

Wie sehen Sie die weitere Entwicklung des Euro?

Siebert: Die Nachfrage nach Euro in der Welt wird zunehmen, der Außenwert der europäischen Währung wird dann wieder steigen. Das alles erfordert aber hohe politische Disziplin der einzelnen Nationen, sich dem Euro unterzuordnen. Das ist jetzt eine Gemeinschaftswährung, da kann jetzt keiner mehr aus der Reihe tanzen. Von daher muss sich die nationale Politik gegenüber der Europäischen Zentralbank zurückhalten. Und ihren ersten Kampf gegen nationale Interessen hat die Europäische Zentral-Bank gegen Lafontaine gewonnen. Der große Test steht allerdings noch aus, wenn in einem großen Land der Währungs-Union eine wirkliche Krise ausbrechen würde, die nicht synchron ist mit dem, was in den anderen Ländern passiert.

Ist der Euro denn derzeit unterbewertet oder ist die amerikanische Währung derzeit einfach zu stark?

Siebert: Da kommen viele Faktoren zusammen. Die amerikanische Währung ist eben verblüffend stark. Im letzten Quartal des vergangenen Jahres erreichte die amerikanische Wirtschaft ein reales Wachstum von 5,8 Prozent. Im Vergleich dazu hatte Deutschland rund 1,4 Prozent Wachstum. Dieser Aspekt müsste sich jetzt drehen, wenn die Konjunktur hier wächst und in USA leicht schwächer wird. Wir haben eben in den drei kontinentaleuropäischen Ländern Italien, Frankreich und Deutschland die Schulaufgaben noch nicht gemacht. Die OECD nennt in einer Studie 40 strukturelle Schwachpunkte für Deutschland, für die USA dagegen nur sieben, für Großbritannien zehn.

Was müsste die Politik denn in dieser Situation vermitteln?

Siebert: Die Politik muss dem Bürger sagen, wo wir dringend ansetzen müssen. Und da sind wir wieder bei der Steuerreform, der sozialen Sicherung und dem Regelwerk für Arbeit, aber an die letzten beiden Themen wagt sich niemand heran.

Wo könnte die Politik ansetzen?

Siebert: Man könnte zum Beispiel zu einer dezentraleren Lohnfindung kommen, das heißt, die Lohnfindung stärker in die Betriebe hinein verlagern. Wir müssen uns auch wieder vorstellen können, dass sich die Löhne stärker auf dem Markt bilden. In anderen Ländern kennt man keine Branchen-Tarifverträge. Wir müssen mehr Zutrauen zum Markt haben.

Kann das Bündnis für Arbeit dabei etwas bewegen?

Siebert: Ich bin da sehr skeptisch. Bisher ist nichts Greifbares herausgekommen. Das mag in kleinen Ländern, wie Holland es praktiziert hat, funktionieren, aber nicht in großen wie in Deutschland. Das Problem liegt darin, dass die Verantwortlichkeiten verwischt werden. Die Tarifvertragsparteien setzen die Tarife, aber verblüffender Weise sind sie für deren Mengen, die sich am Arbeitsmarkt einstellen, also Arbeitslosigkeit und Beschäftigung nicht verantwortlich.

(NGZ)
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