Erinnerungskultur Überlebensdrang und Freiheitswille

REES · Mehr als 100 Gäste beteiligten sich an den Gedenkveranstaltungen in Rees und Megchelen. Ungefähr die Hälfte wanderte auch auf den Spuren der niederländischen Zwangsarbeiter.

Am Mahnmal in Megchelen: Die Organisatoren und Redner Tina Oostendorp (Stadtarchiv), Jan Snelting, Arend Diesberg, Theo Teitink, Peter van Thor, Bodo Wißen (stellv. Reeser Bürgermeister) und Otwin van Dijk (Bürgermeister Oude Ijsselstreek).   RP-Foto: ms

Am Mahnmal in Megchelen: Die Organisatoren und Redner Tina Oostendorp (Stadtarchiv), Jan Snelting, Arend Diesberg, Theo Teitink, Peter van Thor, Bodo Wißen (stellv. Reeser Bürgermeister) und Otwin van Dijk (Bürgermeister Oude Ijsselstreek). RP-Foto: ms

Foto: Michael Scholten

Das Gedenken an die niederländischen Zwangsarbeiter im Kriegswinter 1944/45 und die Gedanken an den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine waren beim Gedächtnisgang von Rees nach Megchelen untrennbar miteinander verbunden. „Frauen, Kinder, Männer sterben sinnlos, weil das flächenmäßig größte Land der Erde meint, es sei noch nicht groß genug“, kritisierte der erste stellvertretende Bürgermeister Bodo Wißen und schlussfolgerte mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin: „Da arbeitet jemand seine Komplexe am Weltgeschehen ab.“ Wißen hoffte, dass Putin seinen Fehler erkennt, das Schießen einstellt und den Rückzug beginnt. „Denn was Krieg und Zwangsarbeit bedeuten, haben unsere Eltern und Großeltern erlebt. Ich hoffe inständig, dass nicht noch unsere Kinder und Kindeskinder diese Erfahrung machen müssen.“

Als vor 78 Jahren die alliierten Streitkräfte auf Höhe Rees den Rhein überquerten, läuteten sie das Ende des Zweiten Weltkrieges ein und beendeten auch das Leiden der niederländischen Zwangsarbeiter, die im „Kamp Rees“ unter menschenunwürdigen Bedingungen lebten und zu Schanzarbeiten herangezogen wurden. In den vorangegangenen Monaten waren schon viele hundert Zwangsarbeiter an den Folgen von Erschöpfung, Krankheit, Hunger, Kälte oder Gewalt gestorben. Wer die Befreiung aus dem Lager im März 1945 erlebte, kehrte ausgemergelt zu seiner Familie in Megchelen, Apeldoorn oder weiteren niederländischen Gemeinden zurück. An diesen Heimweg erinnert seit 13 Jahren der Gedächtnisgang von Rees nach Megchelen. Dort wurde 2010 auch ein von Piet Sluyter geschaffenes Mahnmal eingeweiht, das eine Gruppe von Zwangsarbeitern zeigt.

Mehr als 100 Deutsche und Niederländer fanden sich jetzt zunächst an der Gedenkstätte am Melatenweg in Rees ein. Am Standort der früheren Ziegelei Groin, die als „Kamp Rees“ oder „Hölle von Rees“ in die deutsch-niederländische Geschichte einging, legten Vertreter der Gemeinden und Verbände Kränze und Gestecke nieder. Dabei wurden sie von Schülerinnen des Gymnasiums Aspel unterstützt. Auch Pfarrer Michael Eiden und Pfarrerin Sabina Berner-Pip schlugen eine Brücke von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu den aktuellen Fernsehbildern: „Was unschuldigen Menschen angetan wird, überfordert uns. So wie es zu allen Zeiten Menschen überfordert hat, Not, Krieg und Unrecht ausgeliefert zu sein oder hilflos mit ansehen zu müssen.“ Der stellvertretende Bürgermeister Bodo Wißen lobte den Mut, mit dem die Ukrainer für ihre Freiheit und somit auch für die Freiheit aller Europäer kämpfen: „Denn wenn Russland mit seinem Angriff durchkommt, werden wir alle in Unsicherheit leben.“ Im Laufe des gemeinsamen Spaziergangs nach Megchelen, an dem sich auch der frühere Reeser Bürgermeister und jetzige Landrat Christoph Gerwers beteiligte, hielt die Gruppe am Friedensbaum in Empel inne und legten neben den Nationalflaggen der Ukraine, der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Blumen nieder.

In Megchelen am dortigen Mahnmal betonte Otwin van Dijk, Bürgermeister der Gemeinde Oude Ijsselstreek, dass ein Leben in Freiheit nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden dürfe. Der Überlebensdrang und Freiheitswille der ukrainischen Bevölkerung erinnerten ihn an die niederländischen Zwangsarbeiter, die einst den Kriegswinter in Rees überstanden, bis sie endlich zu ihren Familien zurückkehren konnten. Bernd Schäfer las am Mahnmal aus dem Tagebuch eines Niederländers vor, der am 6. Dezember 1944 in Bloemendaal von der Straße weg verschleppt und ins Lager Groin gebracht wurde. Diese Erinnerung an Unmenschlichkeit und Brutalität ist in Norbert Behrendts Buch „Kriegsschicksale aus Millingen und Umgebung“ für die Nachwelt erhalten geblieben.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort