Interview mit Heinz-Werner Schuster und Wera Steffens "Mehr Personal für Pflege"

Düsseldorf · Vor dem Düsseldorfer Landgericht müssen sich zwei Pflegerinnen verantworten, weil sie einem kurz darauf verstorbenen 104-Jährigen eine enorme Überdosis an Schmerzmitteln verabreicht haben sollen. Ein besonders krasser Fall - wirft er dennoch ein Licht auf Missstände und Fehlentwicklungen?

 Heinz-Werner Schuster (städtische Pflegeplanung, früher bei der Heimaufsicht) und Wera Steffens (Leiterin Caritas Altenzentrum Herz-Jesu).

Heinz-Werner Schuster (städtische Pflegeplanung, früher bei der Heimaufsicht) und Wera Steffens (Leiterin Caritas Altenzentrum Herz-Jesu).

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Vor dem Düsseldorfer Landgericht müssen sich zwei Pflegerinnen verantworten, weil sie einem kurz darauf verstorbenen 104-Jährigen eine enorme Überdosis an Schmerzmitteln verabreicht haben sollen. Ein besonders krasser Fall - wirft er dennoch ein Licht auf Missstände und Fehlentwicklungen?

Schuster So etwas ist und bleibt ein Einzelfall, der dann, wenn er geschieht, ein ganzes Berufsfeld mit vielen engagierten Menschen diskreditiert.

Steffens Wer sich in die Obhut eines Pflegeheims begibt, muss keine Angst haben. Nach 15 Jahren Arbeit im Caritas Altenzentrum Herz-Jesu sage ich das guten Gewissens.

Also alles im Lot?

Schuster Nein. Natürlich gibt es Punkte, die diskutiert und neu bewertet werden müssen.

Zum Beispiel?

Schuster Heute gilt: 50 Prozent der Beschäftigten in der Pflege müssen Fachkräfte im Sinne des Gesetzes sein, also eine Ausbildung in der Kranken- oder Altenpflege haben. Diese Quote ist willkürlich gegriffen, sie lässt sich derzeit wissenschaftlich nicht begründen. Richtig wäre, wenn sie höher ausfiele. Im Kern geht es um den so genannten Tätigkeitsvorbehalt, also die Frage, wer darf mit welcher Qualifikation welche Aufgabe übernehmen.

Steffens Konkret heißt das: Medikamente verabreichen oder Spritzen setzen dürfen nur ausgebildete Fachkräfte nach ärztlicher Anordnung. Diese Vorgabe halten wir immer und in jedem Fall ein. Sowohl die Arbeit selbst als auch die Dokumentation werden zudem von einer zweiten Kraft kontrolliert.

Hätten Sie gern mehr Personal?

Steffens Ja. Vor allem mehr Mitarbeiter, die Menschen betreuen und begleiten und damit die eigentlichen Pflegefachkräfte entlasten.

Wie viele Menschen leben in ihrem Altenheim und von wie vielen Mitarbeitern werden sie betreut?

Steffens Bei uns leben 183 Menschen. Rund 115 Köpfe arbeiten auf Voll- und auf Teilzeitstellen direkt am Menschen, neben den Fachpflegern sind das Betreuungsassistenten, der soziale Dienst und Auszubildende.

Schuster Kritisch wird es ja in der Nacht. Dann kümmern sich in vielen Einrichtungen zwei Fachkräfte um rund 80 Patienten. Lagert man einen kranken Menschen um, wäre es besser, wenn er von zwei Kräften gelagert würde. Aber wer kümmert sich in einem solchen Moment dann um die anderen 79?

Steffens Am Ende ist das ein gesellschaftliches Thema. Wenn der Druck steigt, wird Politik handeln müssen und wollen. Wir an der Basis sind von diesen Entscheidungen abhängig und können nicht einfach mehr Personal einstellen.

Die Debatte hat ja mächtig an Fahrt gewonnen, seitdem der junge Pfleger Alexander Jorde in einer TV-Wahl-Arena die Kanzlerin hartnäckig zur Rede stellte. Sein Vorwurf: Menschen, die Deutschland zu dem gemacht haben, was es ist, können in den Heimen der Republik oft nicht in Würde ihre letzte Lebensphase verbringen.

Steffens Diese sehr pauschale und negative Einschätzung kann ich nicht teilen. Wir haben zuletzt sehr viel Bürokratie, darunter auch sinnlose Dokumentationspflichten, abgeschafft. Diese Entwicklung setzen wir gerade fort, in dem wir solche Aufgaben digitalisieren. Hier ist die EDV ein Segen, weil sie Abläufe teils erheblich vereinfacht.

Schuster Es gab mal einen Fall, bei dem ein Heimleiter in ein Formular den Satz "Ich bin ein Idiot" geschrieben hatte. Zig Tage hintereinander wurde das von Beschäftigten einfach abgehakt. Es gab wirklich absurde Auswüchse in diesem Bereich.

Bleibt jenseits von "satt und sauber" Zeit für ein persönliches Gespräch?

Steffens Aber ja. Das geht vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt und bei jeder Gelegenheit, aber es ist möglich und gehört zum Arbeitsalltag.

Herr Schuster, Sie haben viele Jahre in der städtischen Heimaufsicht, die heute nach dem Wohn- und Teilhabegesetz "WTG-Behörde" heißt, gearbeitet. Mussten Sie in dieser Zeit eine Einrichtung schließen?

Schuster Nein.

Aber Beschwerden gab es?

Schuster Klar. Dafür waren wir ja da.

Und worum ging es?

Schuster Mal sagten Angehörige, dass bei einem Besuch "niemand" vom Personal sichtbar oder greifbar war, mal beklagten Bewohner, dass man lange und oft geklingelt hat und niemand kam. Wo es offensichtlich zu wenig Personal gab, haben wir untersagt, weitere Bewohner aufzunehmen, also einen Aufnahmestopp verhängt. Ein Thema, das mich immer wieder berührt, ist die Gewalt gegenüber Älteren. Es gibt so etwas auch in Heimen, allerdings dürfte es im häuslichen Bereich noch viel mehr Fälle geben.

Was kann man tun, damit Ältere sich nicht in ein Heim "abgeschoben" fühlen?

Steffens Ganz wichtig ist die soziale Einbindung im Stadtteil und die Möglichkeit, dass sich Angehörige oder Menschen aus der Nachbarschaft auch mal außerhalb eines Zimmers in einem Altenheim aufhalten können. Also zum Beispiel am Mittagstisch teilnehmen. Bei uns spielt auch die Anbindung an die Pfarrgemeinde eine große Rolle.

Schuster Oder, dass Besucher in der Cafeteria eine Runde Skat spielen. Alles, was für Ansprache und Abwechslung sorgt, ist gut. In der Tat ist die Öffnung der Heime gegenüber dem Stadtteil ganz wichtig.

Haben wir in Düsseldorf genügend vollstationäre Pflegeplätze?

Schuster Nein. Im Moment gibt es etwas mehr als 5100 Plätze. Bis 2025 müssen es 6330 sein, um den Bedarf zu decken. Hinzu kommen die Plätze, die durch die Vorgabe, mehr Einzelzimmer zu schaffen, benötigt werden. Wir gehen von einem Mehrbedarf von etwa 1400 Plätzen aus.

Und das ist so, obwohl doch die politische Vorgabe lautet "ambulant statt stationär"?

Schuster Ja. Denn irgendwann kommt für die meisten pflegebedürftigen Menschen der Punkt, wo es zuhause nicht mehr geht.

Steffens Und es für einige Senioren einfach besser ist, nicht mehr daheim zu leben. Denken Sie an die Betreuung, die regelmäßigen Mahlzeiten und den insgesamt strukturierten Tagesablauf.

Schuster Dass man lange so getan hat, als ob irgendwann kaum noch jemand ins Heim muss, hatte im Übrigen einen unguten Nebeneffekt.

Welchen?

Schuster Man hat sich einfach lange Zeit nicht genügend Gedanken gemacht, wie der Bereich der stationären Pflege verbessert werden kann. Wenn Sie so wollen, ging der Blick schlicht daran vorbei.

Wenn Sie in Berlin - wo am Freitag 8000 zusätzliche Stellen in der Pflege in Aussicht gestellt wurden - mit am Verhandlungstisch säßen, was wären Ihre wichtigsten Forderungen?

Schuster Seit 35 Jahren debattieren wir über "Pflegenotstand" oder "Pflege in Not". Immer im Zentrum: Wie kann man ein valides System zur Ausstattung mit Personal entwickeln, das den Pflegebedürftigen gerecht wird? Dabei liegt die Antwort auf der Hand: Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Menschen ins System kommen. Rollende Roboter mit großen Kugelaugen aus Glas können das nicht ersetzen. Wer eine Pflege mit Würde will, verursacht gesamtgesellschaftliche Kosten. Das muss Politik klar benennen - und dann auch tatsächlich so entscheiden.

Jörg Jannsen führte das Interview.

(RP)
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