Interview mit der Slawistin Mirja Lecke Putin beruft sich auf die Kultur

Mirja Lecke, Russland- und Ukraine-Expertin und Professorin für Slawische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg, erkennt in Putins Ziel eines Großrussischen Reiches eine Haltung wieder, die bereits Russlands Nationaldichter Alexander Puschkin im 19. Jahrhundert in Worte fasste.

 Der Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin (nach einem Gemälde von O. Kiprensky aus dem Jahre 1827, das sich heute in der Tretjakow-Galerie in Moskau befindet).

Der Dichter Alexander Sergejewitsch Puschkin (nach einem Gemälde von O. Kiprensky aus dem Jahre 1827, das sich heute in der Tretjakow-Galerie in Moskau befindet).

Foto: Keystone

Halten Sie es für möglich, dass Putin die von den russischen Medien beeinflusste Mehrheitsmeinung der Russen wiedergibt, wenn er behauptet, die Ukraine sei ein Teil des russischen Imperiums?

Lecke Ich halte das für eher unwahrscheinlich. Es ist schwierig, die Russen zu ihrer Meinung gegenüber den Ukrainern zu befragen. Da gibt es sehr vielschichtige, auch enge familiäre Bande. Ich glaube nicht, dass es mehrheitsfähig wäre, der Ukraine von russischer Seite ein Recht auf jede Autonomie abzusprechen. Es gibt sicherlich viele, die die Ukraine als besonders nahestehendes Nachbarland betrachten, aber die Eigenständigkeit werden ihr die meisten nicht absprechen.

Selbst wenn es keine Mehrheit ist: Was ist der vergiftete Humus, auf dem eine Stimmungsmache gegen eine selbstständige, freie Ukraine unter Putins Anleitung gewachsen sein könnte?

Lecke Es gibt einen „postimperialen Komplex“, die Vorstellung, dass es Russisch-Sprechende gibt außerhalb der eigenen russischen Grenzen, die sich dort in einer Frontierposition befinden und fremden Umgebungen ausgesetzt sind – was sie nicht waren, bevor die Grenzen sich mit dem Fall der Sowjetunion zurückzogen. Es gibt durchaus die Vorstellung, dass die Sphäre, in der Russen leben, größer ist als Russland selbst. Das bezieht sich aber nicht nur auf die Ukraine, sondern zum Beispiel auch auf Kasachstan und die baltischen Staaten. Wir sehen aber die Aggression in zugespitzter Form gerade in Bezug auf die Ukraine, die traditionell zusammen mit Belarus als besonders nahestehendes Land betrachtet wird.

Blicken wir mal in die Kulturgeschichte: Gogol war der berühmteste ukrainische Schriftsteller. Er hat allerdings auf Russisch geschrieben. Könnte das auch dazu beigetragen haben, dass er von Russland eingemeindet wurde und die Ukraine keinen international bekannten Schriftsteller hat?

Lecke Die Ukraine hat einen Nationalschriftsteller, das ist Taras Schewtschenko, ebenfalls ein Romantiker, der gerade in ukrainischer Sprache ein beeindruckendes Oeuvre geschaffen hat. Gogol ist ein anderer Fall, Gogol ist ambivalent. Er ist ein Ukrainer, der in Russland eine glänzende Karriere hingelegt hat. Er hat sie eröffnet mit attraktiven, interessanten Geschichten über die Ukraine, hat sich dann aber von diesem Thema abgewandt. Ukrainische Literatur gibt es in ukrainischer und russischer Sprache.

Wie hat die russische Literatur allgemein die Ukraine dargestellt – eher folkloristisch oder spöttisch?

Lecke In der folkloristischen Darstellung ist Gogol der bekannteste und wirkmächtigste Vertreter. Im Unterschied zu anderen imperialen Literaturen sehen Sie hier einen ukrainischstämmigen Adligen, der den idyllisierenden, romantisierenden und auch komisch herabschauenden Blick auf seine Heimatregion in der Sprache des Herrschers verbreitet. Diese Traditionslinie ist sehr wirkmächtig bis ins 20. Jahrhundert, vielleicht bis in die Gegenwart. Doch es gibt auch im engeren Sinne imperial gesonnene Schriftsteller, die die Ukraine als ein beendetes Experiment betrachten und sagen, eine Zukunft für ukrainische Staatlichkeit sei nur innerhalb Russlands sinnvoll und denkbar. Und da ist Puschkin ein wichtiger Protagonist, der russische Romantiker und Nationaldichter.

Wo und wie hat er sich dazu geäußert?

Lecke Man könnte sein Poem „Poltawa" nennen. Dort wird die Idee einer romantisch unabhängigen nationalen Ukraine abgewickelt, die aufgeht in einem russisch dominierten Klassizismus, der Peter den Großen als Helden hat.

Darauf gründen sich ja wohl auch Putins Ansichten von einem großrussischen Imperium. Wie weit wirkt Puschkins Haltung in die Gegenwart?

Lecke Puschkin war natürlich nicht allein. Man kann an Putins Reden und Schriften ganz deutlich sehen, dass sie vorrangig auf eine historische Dimension des Zusammenlebens mit der Ukraine zielen; dass man aus der Historie versucht zu begründen, dass die Ukraine vermeintlich nichts Eigenes sei, dass sie eigentlich eine eigene Erfindung sei. Das geht natürlich auf das 19. Jahrhundert zurück. Damals ging das einher mit einer Unterdrückung aller ukrainischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Schon damals gab es in Russland die Argumentation einer ewigen Verbrüderung mit Russland, verbunden mit der Vorstellung, dass die ukrainische Kultur eigentlich keine richtige, keine autonome Kultur sei. Das wurde schon seinerzeit – vergeblich – dafür eingesetzt, in der Ukraine jegliche Form von Unabhängigkeit zu unterbinden.

Welche Rolle kommt der Literatur heute in Russland und der Ukraine noch zu?

Lecke Zumindest kann man festhalten, dass im Medium der Literatur die großen Entwürfe von Geopolitik und politischen Modellen durchaus eine Anhängerschaft haben. Natürlich sind beide Länder Lesenationen. Die Forschung zeigt auch, dass sich in diesem Medium sehr intensiv Debatten über die Koexistenz, die Rolle von Sprachen, von gegenseitigen Imaginationen niederschlagen. Inwiefern das für die Massenmobilisierung tauglich ist, das ist eine andere Frage, übrigens auch in Deutschland und in anderen europäischen Ländern. Wer liest so viel, wer trägt solche Debatten hauptsächlich über die Literatur aus? Das sind keine Massen. Aber die Literatur ist ein sehr gutes Beobachtungsfeld für feine Stimmungen.

Wie stehen Sie zum kriegerischen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine?

Lecke Ich halte den russischen Angriff für einen Bruch des Völkerrechts und eine absolute Tragödie. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Darin war ich auch mit Kollegen einig. Ich bin fassungslos.

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