Protest gegen Putins Krieg Scham und Tränen in der russischen Bevölkerung

Moskau · Wie stehen eigentlich die Menschen in Russland zu dem Krieg gegen das Nachbarland? Anti-Kriegs-Proteste, offene Tränenausbrüche bei Gesprächen im Büro oder auf der Straße, Sorgen oder blankes Entsetzen: In Russland lässt der Krieg von Wladimir Putin gegen die Ukraine niemanden kalt.

Anti-Kriegs-Proteste in St. Petersburg
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Anti-Kriegs-Proteste in St. Petersburg

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Foto: AP/Dmitri Lovetsky

„Es herrscht eine bedrückende Stimmung. Viele sind in Sorge, wohin soll das alles führen“, sagt Barista Dmitri in einem Coffeeshop in Moskau. Auf dem neuen Arbat im Stadtzentrum der russischen Hauptstadt protestieren Menschen erneut spontan gegen Putins Angriff auf das Nachbarland, obwohl Uniformierte oft mit roher Gewalt durchgreifen.

In Dutzenden Städten, darunter auch in Putins Heimatstadt St. Petersburg, gehen Menschen auf die Straße. Es hat schon Tausende Festnahmen gegeben. In Kremlnähe finden sich am Sonntag auch der deutsche Botschafter Géza Andreas von Geyr und andere Diplomaten aus EU-Staaten ein - offiziell, um an den vor sieben Jahren ermordeten Putin-Kritiker Boris Nemzow zu erinnern. Aber die Gedanken sind auch in der Ukraine, wie von Geyr mitteilte. Der frühere Vizeregierungschef Nemzow war ein großer Freund der freien und unabhängigen Ukraine, die nun um ihr Überleben kämpft.

Viele, die informiert sind über Putins blutige Schlacht in der Ukraine, sagen, sie „schämten“ sich für ihr Land. Und nicht wenige weinen. Für viele Menschen im flächenmäßig größten Land der Erde aber ist gar nicht klar, warum Putin die größte Weltkrise seit Jahrzehnten vom Zaun gebrochen hat. Doch alle spüren, dass etwas nicht stimmt - wovon auch lange Schlangen an den Bankautomaten zeugen. Nachdem der Westen russische Banken mit Sanktionen belegt hat, geben viele Automaten am Wochenende kein Geld mehr heraus.

Das russische Staatsfernsehen erklärt lang und breit die Kreml-Linie, dass es bei der „Spezial-Operation“, die offiziell nicht Krieg genannt werden darf, um eine Friedensmission gehe. Putin hatte seinen Angriff auf das Nachbarland damit am Donnerstag erklärt, dass er das in die Nato strebende Land entmilitarisieren wolle. Und er behauptet, die Führung und die Streitkräfte seien von „drogensüchtigen Neonazis“ durchsetzt, die er vernichten wolle. Beweise gibt es nicht.

Wer sich aber nur die Inszenierung des russische Staatsfernsehens anschaut, kann den Eindruck gewinnen, dass Putin einen Grund haben könnte für sein Vorgehen. Trotzdem kommen bei vielen Zweifel auf, ob es das wert ist, Russland gleich in noch schlimmere wirtschaftliche Probleme zu stürzen als ohnehin schon. Die meisten Menschen in Russland informieren sich über die Staatsmedien, die nur den Kremlstandpunkt wiedergeben.

Die Informationswelt in Russland wird massiv zensiert. Der Machtapparat will verhindern, dass Bilder von zerstörten russischen Panzern oder von Gefallenen zu einem Aufschrei in Russland führen und noch mehr Menschen auf die Straße treiben.

Soziale Netzwerke wie Twitter lassen sich am Sonntag nicht mehr auf Smartphones öffnen. Auch Facebook ist nur noch über besonders geschützte Verbindungen ohne Probleme erreichbar. Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor droht mit einer Totalblockade. Russische Medien dürfen keine Begriffe wie „Invasion“, „Kriegserklärung“ und „Angriff“ verwenden.

Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew verstärkt am Wochenende Befürchtungen, dass Putin den Krieg auch nutzen könnte, um eine Diktatur wie zu Sowjetzeiten zu errichten. Als Vizechef des russischen nationalen Sicherheitsrats spricht er sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe aus und macht Angst damit, dass Russland sämtliches Vermögen westlicher Investoren - allen voran aus den USA - verstaatlichen könnte - als Reaktion auf die Sanktionen.

Trotzdem rufen immer mehr Russen Putin in Petitionen zur sofortigen Beendigung des Krieges gegen die Ukraine auf. „Wir, russische Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter, sind entschieden gegen kriegerische Handlungen, die von den russischen Streitkräften auf dem Gebiet der Ukraine vollzogen werden“, heißt es in einem Schreiben mit mehr als 300 Unterschriften. Dutzende russische Hilfsorganisationen veröffentlichen einen offenen Brief an Putin mit der Bitte, den Krieg zu beenden. „Krieg ist eine humanitäre Katastrophe, die Schmerz und Leid vermehrt.“

In einer von Schriftstellern, Filmemachern und anderen Künstlern sowie von Medienschaffenden unterschriebenen Erklärung steht: „Der von Russland begonnene Krieg gegen die Ukraine ist eine Schande. Das ist unsere Schande, aber leider wird die Verantwortung dafür noch von unseren Kindern, einer ganzen jungen Generation und von noch nicht einmal geborenen Russen getragen werden müssen.“ Viele fragen sich auch, ob da nicht irgendwann die Stimmung in der Beamtenschicht des russischen Machtapparats, der Basis von Putins System, kippen müsste.

Demonstrierende protestieren in St. Petersburg gegen Russlands Invasion in die Ukraine.

Demonstrierende protestieren in St. Petersburg gegen Russlands Invasion in die Ukraine.

Foto: dpa/Dmitri Lovetsky

Aber die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja sagt, offene Proteste in der russischen Gesellschaft erwarte sie nicht. „Unsere Gesellschaft befindet sich in tiefster Apathie, Niedergeschlagenheit und Angst.“

(felt/dpa)
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