Formel 1 nicht mehr bei RTL Die Magie der Unvernunft

Analyse | Düsseldorf · Nach 30 Jahren verabschiedet sich RTL von der Live-Übertragung der Formel 1. Damit geht mehr als nur ein Kapitel Rennsportgeschichte zu Ende.

 Der erstplatzierte Brite Lewis Hamilton (l.) vom Team Mercedes AMG und der zweitplatzierte Niederländer Max Verstappen feiern nach dem Rennen in Ungarn im Juli dieses Jahres.

Der erstplatzierte Brite Lewis Hamilton (l.) vom Team Mercedes AMG und der zweitplatzierte Niederländer Max Verstappen feiern nach dem Rennen in Ungarn im Juli dieses Jahres.

Foto: dpa/Mark Thompson

Das ist… als wenn man dir die Champions League abdreht.“ Mein alter Freund Jörn blickt dem kommenden Sonntag mit Wehmut entgegen. Jörn hat Benzin im Blut, hätte man früher gesagt. Heute macht man sich damit sofort einer unterirdischen CO2-Bilanz verdächtig. Für Jörn ist Sonntag Schicksalstag: Da endet mit dem letzten Formel-1-Rennen der Saison in Abu Dhabi nach 30 Jahren auch die TV-Berichterstattung von RTL.

Mir macht das weniger aus. Meine Begeisterung für Rennwagen ist verebbt, als ich aufhörte, mit Autos zu spielen. Also schon lange. An das kleine Modell Porsche Typ 804, Baujahr 1962, aber kann ich mich genau erinnern. Ich finde es zumindest schade, dass eine Bastion des unverschlüsselt übertragenen Live-Sports fällt. Formel 1 gibt es ab nächstem Jahr nur noch bei Sky.

Mit meinem alten Freund Jörn dürften noch etwa vier Millionen Fans leiden, die zuletzt regelmäßig RTL einschalteten, wenn irgendwo auf der Welt Boliden brüllend ihre Runden zogen – nicht selten länger als drei Stunden am Stück. Die Straßen der Eifel waren an solchen Sonntagen noch leerer als sonst, der getunte Golf IV aber funkelte frisch gewaschen. Auf den Bildschirmen, aufgenommen aus der Vogelperspektive, bewegte sich die Meute aus Rennpiloten immer viel langsamer, als sie es in Wirklichkeit tat. Die Zuschauer vor Ort hingegen bekamen wohl wenig mehr mit als rasende Schemen und ohrenbetäubendes Kreischen.

Wo also lag die Faszination? Zugegeben: Obwohl ich mich nicht entsinnen kann, auch nur eines dieser Rennen vom Anfang bis zum Schluss freiwillig angeschaut zu haben, sind mir Bilder, Namen und sogar Fachausdrücke aus der Formel-1-Begriffs- und Abgaswolke präsenter als irgendwelche aus anderen Sportarten, für die ich mich nur am Rande interessiere. Vermutlich weil es sich um die schnellste, teuerste, technischste, gefährlichste, glamouröseste, irrsinnigste – kurzum männerfantasievollste Art auf diesem Planeten handelt, sich vor Publikum auszutoben. Das geht in drei Jahrzehnten an keinem spurlos vorbei, zumal im Autoland Deutschland.

Für meinen alten Freund Jörn ist das Spektakel eines Formel-1-Rennens maßgeschneidertes Entertainment. Er kennt die Tücken jeder Strecke, weiß über das jüngste verrückte Outfit von Kostenpflichtiger Inhalt Kommentatoren-Urgestein Kai Ebel ebenso detailliert zu berichten wie über die Verbesserungen der Sicherheitstechnik in den vergangenen JahrzehntenKostenpflichtiger Inhalt . Wie glimpflich kürzlich Romain Grosjean davonkam, obwohl er fast 30 Sekunden in seinem brennenden Wrack schmorte! Niki Lauda hingegen war für sein Leben gezeichnet.

Nun bewundere ich durchaus die exakte Arbeit eines Teams, das Reifen beim Boxenstopp in Nullkommanix wechselt, die Furchtlosigkeit, mit der die Duellanten den Kampf mit den Kräften der Physik aufnehmen, die Konzentration, die erforderlich ist, um 750 PS unter Kontrolle zu halten. Ich respektiere all das in dem Maße, wie ich es im Grunde albern finde, dass sich erwachsene Männer hernach mit Champagner bespritzen. Und ehrlich: Ich kann das fachsimpelnde Befremden nicht nachvollziehen, dass eine Leitplanke nicht richtig standhält, wenn sich ein HighTech-Geschoss mit 221 km/h in sie hineinbohrt. Mir leuchtet das vielmehr ein.

Mein alter Freund Jörn zeigt mir gerne mal, was man allein mit 280 PS alles machen kann. Wenn man sie hat. Meistens wird mir dabei schlecht. Mein allererstes Auto war ein Käfer, über Familienkutschen hinaus bin ich nie weit gekommen. Königsklasse ist anders.

Der Grund, warum wir trotz beträchtlicher Unterschiede in der Betrachtung der Formel 1 und motorisierter Fortbewegungsmittel überhaupt über Jahrzehnte stets gute, alte Freunde geblieben sind, liegt tiefer. Was uns an diesem Punkt verbindet, fiel mir auf, als ich vor ein paar Wochen „Damengambit“ sah. Es geht in der TV-Serie um eine Schachspielerin, die sich an die Spitze kämpft. Ich verstehe von Schach noch weniger als vom Motorsport. Aber mit welcher Passion die junge Frau ihr Ziel verfolgt, war total spannend und erinnerte mich wiederum an den Film „Rush“, der von der Rivalität zwischen Niki Lauda und seinem britischen Rennfahrerkollegen James Hunt in der Formel 1 der 70er-Jahre handelt. Ich mochte auch diese Geschichte, weil sie von dem erzählt, was wir immer und überall suchen: die Macht der Leidenschaft.

Wenn RTL die Formel-1-Rennen nicht mehr überträgt, die ich mir nie anschaue, wird dennoch ein Stück von dieser Leidenschaft fehlen, etwas vom Traum der Unbesiegbarkeit, der immer noch viele bewegt. Fehlen wird mir, ich muss es zugeben, überdies die Magie der Unvernunft, die zunehmend schwindet und die nicht zu verwechseln ist mit all den Idiotien dieser Zeit. Aber für halsbrecherische Helden mit Bezwingerblick und Siegerkinn, die vielleicht noch Old Spice, das Aftershave ihrer Väter, benutzen, auf deren Rennwagen zwar keine Zigarettenreklame mehr prangen darf, die aber 75 Liter Sprit auf 100 Kilometer Rennstrecke verbraten, die sich wiederum brutal in die schönste Natur frisst – nun, über solche Helden geht die Zeit gerade ein bisschen hinweg.

Es fehlen nicht zuletzt die Großen aus Deutschland, von denen in der Saison 2010 bis zu sieben am Start standen, darunter der unvergessene Michael Schumacher. Am Sonntag bestreitet dessen Sohn Mick in Abu Dhabi immerhin seine erste Ausfahrt im Team Haas, Sebastian Vettel seine letzte für Ferrari. Werden sie dereinst leise surrend in der E-Formel 1 unterwegs sein? Diese Aussicht dürfte auch meinem alten Freund Jörn kaum behagen. Aber sie hilft ihm möglicherweise, über die Leere hinwegzukommen, die sich bald an einigen Sonntagen auftut. Vielleicht spielen wir dann zusammen eine Partie Boule.

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