Bremen Die Toten Hosen feiern Geburtstag

Bremen · Auf den Tag genau 30 Jahre nach ihrem ersten Konzert im Bremer Kulturzentrum Schlachthof trat die Band noch einmal an historischer Stätte auf. Eine gute Gelegenheit, hinter die Kulissen zu schauen und die Gruppe bei den Vorbereitungen zu begleiten.

Campino schreit. Er lässt sich über den Bühnenrand fallen, die Menge reicht ihn nach hinten weiter, es geht schnell. Er kippt, man sieht nur mehr seine Füße, aber man hört ihn noch. Ordner mit mächtigen Armen versuchen ihn zurück auf die Bühne zu ziehen, sie zerren am Leib des Sängers, und als er wieder steht, ist sein T-Shirt weg. Mit nacktem Oberkörper singt er den Refrain von "Pushed Again", seine Augen hält er geschlossen, die Haare stehen wie Dornen vom Kopf ab, die Brust glänzt von Schweiß, er streckt die linke Hand aus, greift ins Leere, schleudert die Faust über die Köpfe des Publikums. Vor ihm tobt der Irrsinn, Mädchen stehen auf den Schultern ihrer Freunde und schwenken Flaggen mit Totenkopf-Motiv. Der Zuschauerraum riecht nach Bier und Kerl, er erinnert an ein Amphitheater, nach hinten zu wird er steil, die Fans dort stehen höher als die Musiker vorne; ein Kessel, und wenn die Toten Hosen ihre Lieder hineinwerfen, spritzt es.

Das ist der Geburtstag der Düsseldorfer Band, der Höhepunkt eines besonderen Auftritts. Auf den Tag genau vor 30 Jahren gaben sie im Bremer Kulturzentrum Schlachthof ihr erstes Konzert, und nun stehen sie wieder dort: Sänger Campino, der charismatische Herrscher mit dem sardonischen Grinsen. Gitarrist Kuddel, den man bei einer Höhlenwanderung zum Gruppenführer ernennen würde, weil er bestimmt den Weg hinaus findet. Der englische Schlagzeuger Vom Ritchie, der den deutschen Begriff schlechte Laune nicht kennt und seit 1998 dabei ist. Bassist Andi, der sich gut konzentrieren kann. Und Gitarrist Breiti, der erst kurz nach dem ersten Auftritt zur Band stieß und stets guckt, als wolle er lieber Zwölfton-Musik machen.

Um vier am Nachmittag treffen sie sich hier. Vor der Konzerthalle warten schon einige Fans, auf den Parkplätzen stehen Autos mit den Kennzeichen LDS (Dahme-Spreewald), DEL (Delmenhorst) und ABG (Altenburger Land), und auch ein Citroen aus Polen trägt das "Bis zum bitteren Ende"-Emblem auf der Heckscheibe. Campino kommt als letzter, "den Sänger" nennen sie ihn nur, und die Band probt bereits. Er trägt eine Jacke des Motorradclubs "Black Devils Wiesbaden", grüßt die Kollegen nicht, sondern geht sofort auf die Bühne, nimmt das Mikrofon und steigt ein. Nach jedem Vers des Songs "Strom" schnellt sein Kopf vor – wie ein Zahnrad, das heftig einrastet. Er bellt sich in Fahrt, und nach dem zweiten Stück, "Mit wehenden Fahnen", sagt er: "Jetzt wird es langsam schön." Ein Helfer stellt ihm eine Tasse dampfenden Tees hin, dazu eine Flasche Honig zum Drücken und einen Pappbecher voller Stäbe zum Umrühren.

Die Toten Hosen beim Soundcheck zu sehen ist ein Erlebnis, Campino steht mit dem Rücken zum Zuschauerraum, Roadies kleben Kabel am Boden fest, Tontechniker laufen auf und ab, bis zu zehn Leute wuseln da herum, die Nebelmaschine pumpt, und niemand steht dem anderen im Weg. Es wird wenig geredet, und wenn, dann meist auf Englisch, wegen Vom Ritchie. Nach drei Liedern verlassen sie die Bühne, "für mich reicht's", nur Breiti bleibt, er macht weiter. Im Backstage-Raum wirft sich Campino auf ein Ledersofa. Bremen sei für ihn ein besonderer Ort, sagt er. In dieser Stadt bekam er den ersten Applaus, und er lernte dort seine langjährige Lebensgefährtin, die Fotografin Gabo, kennen. Er gibt zu, den Text eines steinalten Songs gegoogelt zu haben, von "Spanner", einem Stück der Hosen-Vorgängerband ZK. Solche Sachen wollen sie spielen, an so einem Abend könne man nicht einfach ein Best-of-Programm abliefern. Campino verbrachte die vergangenen Tage mit seinem Sohn, er ist gut aufgelegt, sind ja nur Kumpel da. Als ein Helfer fragt, ob ihm Olivenöl zum Schmieren der Stimmbänder genüge, sagt er: "Klar."

Mitglieder der Crew sitzen an Laptops, Kinderfotos huschen als Bildschirmschoner vorüber. Einer sagt: "Wir sind zu früh gewesen mit dem Soundcheck", ein anderer entgegnet: "Ist uns noch nie passiert." Überall stehen Koffer, beklebt mit den Namen der Musiker und der Adresse des Hotels. Auf dem großen Tisch in der Mitte liegt rotes Wachstuch, darauf stehen schmalbrüstige Blumenvasen und eine 4,5-Liter-Flasche Wodka mit Tote-Hosen-Etikett, die der Baas der Brauerei Uerige, Michael Schnitzler, eben abgegeben hat.

Alkohol trinken indes nur die Besucher, und davon kommen einige. Norbert Hähnel etwa, der als Der wahre Heino aus Berlin in den 80er Jahren im Vorprogramm der Toten Hosen auftrat. Oder Claus "Fabsi" Fabian, ehemals ZK-Mitglied, dann nach Bremen verzogen. Er verschaffte den Kollegen den Auftritt damals, und später wird ihn Campino auf der Bühne einen der zwei wichtigsten Düsseldorfer nennen, die nach Bremen gingen – der andere war Klaus Allofs. Auch Walter November ist da, Gründungsmitglied, aber noch vor dem ersten Album verschollen, angeblich zu den Zeugen Jehovas. Tatsächlich hatte er ein Drogenproblen, inzwischen arbeitet er als Plakat-Ankleber. Zu Spitzenzeiten halten sich 25 Personen in dem kleinen Raum auf. Man hört, wie Männerkörper gegeneinander schlagen, "Nein, Du auch hier?", Fäuste klopfen auf Bäuche, "Mann, komm mal her!".

Zwischendurch geht Campino in die Kneipe des Schlachthofs. Dort wird das Spiel der Fortuna gegen FSV Frankfurt gezeigt, die richtige Mannschaft gewinnt, und danach hält jener Fabsi Fabian einen Diavortrag über "ZK und den Ratinger Hof". Zwanzig Minuten vor Konzertbeginn bittet Bassist Andi um Ruhe, man solle den Raum verlassen. Campino erzählt noch rasch die Geschichte von dem Argentinier, der am Morgen vor seinem Hotel auftauchte. Bei ihm daheim spielte die Band vor zehn Jahren eines ihrer Wohnzimmer-Konzerte. Der Mann hatte geschrieben, sein Hund liege im Sterben, und der solle noch einmal gute Musik hören. Die Hosen reisten an, allerdings war der Hund seit zwei Tagen tot, man spielte trotzdem. Und natürlich hat der Argentinier für heute Abend eine Karte bekommen.

Das ist ein großer Abend, nie sentimental oder pathetisch. Die ersten dreißig Minuten spielt die Band wie einst im Magazinkeller vor rund 200 Leuten, der Auftritt wird in die größere Kesselhalle im Stockwerk darüber übertragen. Campino trägt eine gelbe Opel-Jacke. Er singt "Opel-Gang", "Reisefieber" und "Jürgen Englers Party", die alten Kracher. Die Luft ist schwer von körperwarmer Feuchtigkeit. Der "Weserkurier" schrieb 1982, die Toten Hosen beherrschten nur drei Akkorde, und der Gesang sei genau genommen bloß ein heiseres Brüllen, und nun ist es wieder so, so gut.

Sie ziehen dann bald um, oben warten 750 Fans in der Halle, sie singen zur Begrüßung "Happy Birthday", und dort spielen die Toten Hosen drei Stunden, bis um halb eins in der Nacht. "Hier kommt Alex", "Schön sein", "Bayern", "Wünsch Dir was", "Alles aus Liebe", "1000 gute Gründe", "Blitzkrieg Bop". Bodyguards fangen Fans vor der Bühne ab, Muskelmänner pflücken Frauen von den Lautsprechern, und allen tun die Backenzähne weh, weil es so laut ist. Kurz vor Schluss sagt einer im Publikum, in den "Tagesthemen" hätten sie eben einen Bericht über das Konzert gezeigt. Er sieht zufrieden aus dabei, wie jemand, dem man beglaubigt, dass die letzten drei Jahrzehnte nicht verloren sind.

Dreißigster Geburtstag. Die Toten Hosen sind jetzt groß.

(RP)
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