Der Fall Arnautovic Die dünne Haut der Emigrantenkinder

Belgrad · Wie schon bei der WM 2018 haben albanisch-serbische Animositäten bei der EM für erneuten Torjubelärger gesorgt. Es ist nicht nur die dünne Haut kickender Emigrantenkinder, die sie für Provokationen anfällig macht: Politik spielt beim Balkanfußball immer mit.

 Marko Arnautovic war bei seinem Torjubel kaum zu bremsen.

Marko Arnautovic war bei seinem Torjubel kaum zu bremsen.

Foto: dpa/Robert Ghement

Selbst von seinem Kapitän war Österreichs tobender Hassjubler kaum zu bändigen. Mit unflätigen Worten drohte der serbischstämmige Goalgetter Marko Arnautovic (32/Shanghai) nach seinem Treffer zum 3:1 gegen Nordmazedonien seinem albanischstämmigen Gegenspieler Ezgjan Alioski (29/Leeds) den sexuellen Missbrauch der Mutter an.

Erneut wird die angeblich schönste Nebensache der Welt zur Nebensache. Die Uefa ermittelt. Nordmazedoniens Fußballverband FFM fordert gar die „härteste Strafe“ für den „nationalistischen Ausbruch“: „Wir werden die Würde der mazedonischen Nationalspieler verteidigen, wo immer sie spielen.“ Dabei hatte der Beschimpfte selbst die Verwünschungen nicht einmal vernommen. Im Stadion sei es so laut gewesen, dass er „nichts“ gehört habe, so Alioski: „Nach dem Spiel kam Arnautovic in die Kabine und entschuldigte sich.“

Eigentlich gilt das mazedonisch-serbische Verhältnis als gut. Doch wie schon bei der WM 2018 sind es albanisch-serbische Animositäten, die an der Wiege der erneuten Torjubel-Turbulenzen stehen. Es ist nicht nur die dünne Haut der Emigrantenkinder, die sie für Provokationen auch in den Trikots ihrer neuen Heimatländer anfällig macht: Politik spielt beim Balkanfußball immer mit.

Seit dem Kosovo-Krieg 1999 sind die serbisch-albanischen Beziehungen gespannt – auch unter Jugendlichen in der westeuropäischen Diaspora. Von den von der Elterngeneration übernommenen Kriegstraumata und verinnerlichten Vorurteilen können sich binationale Jungkicker selbst beim Fußballeinsatz für ihre neue Heimat nur selten ganz befreien.

Bereits 2014 sorgte eine an einer Drohne über dem Belgrader Partizan-Stadion schwebende Albaner-Flagge beim EM-Qualifikationsspiel zwischen Serbien und Albanien für heftige Ausschreitungen auf dem Feld und auf den Rängen: Viele der Kurzhosenträger, die sich damals wütend um ein Stück Stoff auf dem Rasen balgten, waren in Westeuropa aufgewachsen.

Erst mit Verspätung fühlten sich die serbischen Verlierer beim WM-Spiel gegen die Schweiz 2018 in Kaliningrad von dem Jubel der aus dem Kosovo stammenden Torschützen Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri provoziert: Den albanischen, von ihnen mit den Händen stilisierten Doppeladler hatten Serbiens Kicker zunächst nicht einmal erkannt.

Die auffällig harsche Reaktion des FFM auf die Entgleisung des reuigen Jubelsünders Arnautovic ist indes auch ein Ausdruck der labilen ethnischen Beziehungen in dem 2001 am Rande eines Bürgerkriegs taumelnden Vielvölkerstaat: Jahrelang fühlte sich die albanische Minderheit nicht nur in ihrem eigenen Staat, sondern auch in der Nationalelf diskriminiert.

Nach der Unabhängigkeit des Balkanstaats 1991 galten die „Roten Löwen“ lange als Herzensangelegenheit der mazedonischen Mehrheit. Albanische Spieler wurden nur selten berufen. Albanischstämmige Fans wiederum drückten vor allem der Nationalelf des benachbarten Albaniens die Daumen.

Doch mittlerweile hat sich der FK Shkendija aus dem überwiegend von Albanern bewohnten Tetovo zum Serienmeister der heimischen Liga gemausert – und machen albanisch- und türkischstämmige Kicker fast die Hälfte des Nationalteams aus. Die erstmalige EM-Qualifikation hat die Fans in der zerrissenen Nation geeint. Selbst Angehörige der albanischen Minderheit feuern nun inbrünstig die Roten Löwen an.

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Foto: AP/Matthias Hangst

Nur mit Blick auf das sensible Beziehungsgeflecht im Vielvölkerstaat ist die unversöhnliche und sehr prinzipiell wirkende Reaktion des FFM zu verstehen: Keinesfalls möchte sich der Fußballverband nachsagen lassen, die Belange seiner albanischstämmigen Kicker zu vernachlässigen.

Im Gegensatz zu ihren Funktionären haben die Spieler das Torjubelnachspiel ihrer verunglückten EM-Premiere indes längst abgehakt. Es ist der nächste Gegner Ukraine, der die vom frühen EM-Aus bedrohten Roten Löwen vor ihrem zweiten Gastspiel in der Bukarester National-Arena am Donnerstag beschäftigt. „Wir müssen an uns glauben, unser Spiel spielen“, so Alioski: „Dieses Spiel ist wie ein Finale für uns - aber auch für die Ukraine.“

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