Analyse SPD gibt Wahl 2017 schon verloren

Berlin · Mit seinem Denkanstoß, 2017 auf einen eigenen Kanzlerkandidaten zu verzichten, hat SPD-Regierungschef Albig eine Debatte über Parteichef Gabriel eröffnet - und ein Dilemma der Sozialdemokraten offengelegt.

Eigentlich könnte die Gemengelage für Sozialdemokraten im Sommer 2015 schöne Gefühle auslösen. Die Bundesregierung setzt ein SPD-Thema nach dem anderen um, in neun Ländern stellt die SPD den Regierungschef, die Union nur in fünf. Fast alle deutschen Großstädte sind in SPD-Hand, die CSU wird durch zwei kapitale Fehlschläge auf Regionalmaß reduziert, und auch in der CDU nimmt das Grummeln über die "Sozialdemokratisierung" des CDU-Profils zu. Genossenherz, was willst Du mehr?

Endlich mal wieder mehrheitlich geliebt werden, könnte die Antwort sein. Denn so sehr sich die SPD-Minister auch abrackern, sie kriegen die SPD-Umfragen nicht aus dem 25-Prozent-Keller heraus. Da stehen die Genossen im Bundestag wie eine Eins hinter der Griechenland-Strategie der Regierung, während sich in der Union tiefe Risse auftun, und was folgte daraus gestern Abend im ZDF-Politbarometer? Minus ein Prozentpunkt auf 25 Prozent für die SPD, unveränderte 41 für die Union, und sowohl die CDU-Kanzlerin Angela Merkel als auch der CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble bleiben an der Spitze der zehn wichtigsten Politiker. SPD-Chef Sigmar Gabriel kommt erst mit großem Abstand auf Platz drei.

Schleswig-Holsteins SPD-Ministerpräsident Torsten Albig hat die Hoffnung aufgegeben, dass sich das bis zur Wahl 2017 drehen lässt. Mit 13 Worten in einem Radio-Interview erschütterte er seine Partei: "Ob die Bezeichnung Kanzlerkandidat noch richtig ist oder nicht, das werden wir sehen." Und er sagte auch zugleich, warum es für die SPD kaum noch lohnt, überhaupt einen eigenen Kanzlerkandidaten aufzustellen. Merkel mache ihren Job "ausgezeichnet", sie sei "eine gute Kanzlerin."

Albigs Aufschlag und der Aufschrei der SPD-Spitzen machen das "S" im Parteinamen einmal mehr zum Platzhalter für "Selbstzerfleischung" oder "Selbstzerstörung". Bei allen programmatischen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten von Volksparteien ist die politische DNA von Christdemokraten und Sozialdemokraten verschieden gewickelt: Die einen haben Lust aufs Regieren, und sei es auch nur als Selbstzweck. Die anderen haben Lust auf die reine Lehre und sei es auch nur die ständige Suche danach.

Nun also die Suche nach der optimalen Strategie, für den Umgang mit einer übermächtigen Kanzlerin. Da Rot-Rot-Grün im Bund nicht funktioniert, hat sich Gabriel angeschaut, wie die SPD starke CDU-Kanzler wie Konrad Adenauer und Helmut Kohl überwinden konnte. Beim ersten Mal arbeitete sich die SPD nach einer Loslösung vom Sozialismus im Godesberger Programm Zentimeter für Zentimeter an die Macht heran. Selbst ein Kanzlerkandidat Willy Brandt schaffte das letztlich erst im dritten Anlauf. Und beim zweiten Mal brauchte es eine Wechselstimmung nach 16 Jahren Kohl und eine personifizierte Doppelstrategie von sozialdemokratischer Wärme von Parteichef Oskar Lafontaine und sozialdemokratischer Wirtschaftskompetenz von Kanzlerkandidat Gerhard Schröder. Fazit: Ins Kanzleramt geht's nur durch die Mitte.

Darauf setzt Gabriel nun wieder. Und zwar mit einer Konsequenz, dass gestandenen Funktionären schwindlig wird. Er beschwört die SPD als Heimat großer Unternehmer, als natürlicher Verbündeter des Mittelstandes, eilt für lukrative Wirtschaftsgeschäfte nach Teheran und lässt in "Impulspapieren" und Gastbeiträgen eine Richtung erkennen, als stünde das wirtschaftsliberale Schröder-Blair-Papier Pate.

Und was mutet er der Seele des sozialdemokratischen Funktionärs nicht alles zu: Ungezwungene Pegida-Kontakte, Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung, klare Kante für das Freihandelsabkommen TTIP, süffisante Bemerkungen über die eigene Generalsekretärin, Wankelkurs beim Grexit. Auch ohne Albigs Zutun hatte das bereits ausgereicht, damit bei den Berliner Sommerfesten zu vorgerückter Stunde die Frage nach möglichen personellen Alternativen zu Gabriel erörtert wurde. Zumeist endete das mit einem frustrierten Blick ins Bierglas.

Auf der Suche nach der reinen Lehre hat Albig nun eine Schein-Lösung gefunden. Wenn es schon absurd erscheint, dass die SPD noch 15 oder 20 Prozentpunkte aufholt, damit aus dem Kanzlerkandidaten ein Kanzler wird, ja dann lässt man das "Kanzler" doch von vorneherein weg, und alles Streben nach der Position des mitregierenden Juniorpartners strotzt wieder vor geradliniger Ehrlichkeit.

Doch die Reduktion auf eine Funktion als Kanzlerin-Mehrheitsbeschafferin ist schon der FDP schlecht bekommen. Um wie viel mehr gilt das für eine Volkspartei? Allerdings hatte die SPD sich nun sogar daran gewöhnt, hinter Zweitplatzierten zurückzustehen, in Baden-Württemberg als Juniorpartner der Grünen, in Thüringen als Juniorpartner der Linken. Freilich tun sich selbst die Linken schwer mit einem vorauseilenden Verzicht à la Albig. Von "Luschenhaftigkeit" spricht Fraktionsvize Dietmar Bartsch. Deshalb warnt Albigs eigener Landesparteichef Ralf Stegner davor, "in Ehrfurcht vor der Bundeskanzlerin zu erstarren".

Wie es sich auch unter aussichtslosen Kräfteverhältnissen drehen lässt, hat Klaus Wowereit 2001 in Berlin gezeigt. Obwohl die CDU damals aus den Wahlen von 1999 über 40 Prozent verfügte und er selbst nur 22,4 Prozent im Rücken hatte, kippte er im Verbund mit Grünen und PDS den CDU-Regierungschef aus dem Amt. Freilich hatte er es zuvor mit einem im Bankenskandal angeschlagenen Regierenden zu tun.

Da ist Gabriels Position gegenüber Merkel von ganz anderem Zuschnitt. Außerdem ist er Sticheleien von Albig gewöhnt. Statt in die Debatte einzusteigen, fuhr er in Urlaub. Er weiß, dass momentan kein anderer den Job des SPD-Chefs haben will. Und den des SPD-Kanzlerkandidaten sowieso nicht.

(may-)
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