Halbzeitbilanz der Groko Viel Fleiß, kein Preis

Berlin · Die große Koalition hat in den vergangenen eineinhalb Jahren zwei Drittel der im Koalitionsvertrag vereinbarten Projekte angepackt. Doch vor allem offene Führungsfragen haben das Image des Bündnisses ramponiert.

 Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU).

Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) und Kanzlerin Angela Merkel (CDU).

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Die Statistik kann sich sehen lassen: Zwei Drittel ihrer Versprechen aus dem Koalitionsvertrag hat die große Koalition vollständig oder teilweise umgesetzt oder substanziell in Angriff genommen – deutlich mehr als die vorherige große Koalition zur Halbzeit. Diese Bilanz hat die Bertelsmann-Stiftung in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen. 296 „echte Versprechen“ und der Stand der Umsetzung wurden identifiziert und überprüft. Das sind 108 Einzelversprechen mehr als in den Koalitionsvereinbarungen der Vorgängerregierung von 2013 bis 2017.

In der dritten Groko unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) wurden mehr Pflegestellen geschaffen, die Betreuung der Kinder verbessert, der Mindestlohn erhöht, der Kohleausstieg beschlossen. Auch die Grundsteuer, das Klimapaket und das Bürokratieabbaugesetz sind abgehakt. Die Koalition war fleißig. Und sie ist mit ihrer Arbeit auch noch nicht fertig.

Am Sonntag will sie die seit einem Dreivierteljahr andauernden Verhandlungen zur Grundrente endlich abschließen. Das Großprojekt dürfte wie das Klimapaket allerdings ein klassischer Parteienkompromiss werden: Die Koalition will eine Antwort auf eine große gesellschaftliche Frage wie die Bekämpfung der Altersarmut wagen, springt dabei aber wie beim Klimapaket zu kurz, weil man nicht gleichzeitig viele Grundrentner erreichen und die fiskalischen Kosten in Grenzen halten kann. Aber wenn sich alle zusammenreißen, gibt es wenigstens eine Lösung und keinen Koalitionsbruch.

Das Problem ist nur: Fast 80 Prozent der für die Studie Befragten glauben, dass allenfalls die Hälfte der Vorhaben umgesetzt wurde. Selbst unter den Anhängern von Union und SPD sagen nur etwa 20 Prozent, die Regierung halte zumindest einen großen Teil ihrer Versprechen ein. Insofern mag diese These stimmen: Diese Groko ist besser als ihr Ruf – aber eben nur statistisch gesehen. Gefühlt ist diese Groko in den Augen vieler Bürger ein Desaster.

Es fing an mit dem Zerwürfnis zwischen Merkel und Innenminister Horst Seehofer in der Flüchtlingspolitik. Beinahe wäre die Unionsfraktionsgemeinschaft daran zerbrochen. Die Frau aus der DDR und der Mann aus Bayern konnten es kaum noch ertragen, im selben Raum zu sein, wurde berichtet. Es folgte die Regierungskrise, weil der frühere Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen als Beamter Politik gegen Merkel machte. Seehofer hatte ihn lange gewähren lassen – bis Maaßen das Fass zum Überlaufen brachte. Zum Dank sollte er von Merkel, Seehofer und der damaligen SPD-Chefin Nahles dann auch noch zum Staatssekretär befördert werden.

Merkels ansonsten sicheres Alarmsystem für eine solche Instinktlosigkeit versagte. Die Empörung brach über alle drei herein. Die Entscheidung wurde revidiert – wurde aber ausgerechnet für Nahles, die mit der Entwicklung zunächst gar nichts zu tun hatte, zum Stolperstein. Nach dem Theater in der Union folgte das Theater in der SPD. Nahles trat zurück.

Lange wartete das Ausland darauf, dass Deutschland zu gewohnter Stärke zurückfindet – lange vergeblich. Die Antwort auf die Reformvorschläge für die EU von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron lieferte nicht Merkel, sondern die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer – und vergrätzte Paris, weil sie dabei den zweiten Sitz des EU-Parlaments in Straßburg infrage stellte.

Die Union war zu diesem Zeitpunkt noch froh, dass sie mit der Saarländerin die Merkel-Nachfolge an der Parteispitze geklärt hatte – auch wenn ihr knapper Sieg über den ehemaligen Unionsfraktionsvorsitzenden Friedrich Merz ein Schlaglicht auf die Spaltung der Partei geworfen hatte.

Doch neue Personaldebatten der SPD lösten die der CDU ab, die Sozialdemokraten mussten sich wieder einmal auf die Suche nach einer neuen Parteiführung machen. Das begann vor fünf Monaten und ist noch nicht zu Ende. Die offene Führungsfrage soll im Dezember beim Bundesparteitag geklärt werden. Inzwischen sind aber die Gräben in der CDU wieder aufgerissen. Kramp-Karrenbauer und Merz stehen sich erneut gegenüber.

Obendrein entzweite sich Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer mit ihrem guten alten Bekannten aus dem Saarland, Außenminister Heiko Maas, in der Syrienfrage. Die Ministerin machte einen Vorstoß zu einer Schutzzone im Norden des Landes unter UN-Aufsicht und informierte Maas darüber schnöde per SMS. Eine Frage von Krieg und Frieden, von Leben und Tod in wenigen Sätzen mitgeteilt. Maas machte es noch schlimmer, als er sich ausgerechnet in der Türkei öffentlich über Kramp-Karrenbauer mokierte. Da bröckelte das Fundament. Und Merkel schwieg. Auch das wird beklagt: Die Kanzlerin führt nicht mehr. Sie lässt vieles laufen. Sie wirkt erschöpft.

Auch deshalb fällt das Urteil der Bürger über die Koalition so kritisch aus. Die Personalquerelen überlagern derart die Sach- und Fachpolitik, dass Errungenschaften überhaupt nicht wahrgenommen werden. „So kann in der Bevölkerung kein Vertrauen in die große Koalition entstehen“, sagt der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker. „Merkel würde der CDU einen Gefallen tun, wenn sie das Kanzleramt vorzeitig räumen würde.“ Er verweist aber auch auf die größte Schwäche dieser Koalition: „Bei den großen Überschriften im Koalitionsvertrag hat sie versagt: Sie hatte einen neuen Aufbruch für Europa, neue Dynamik für das Land und mehr sozialen Zusammenhalt versprochen. Das alles hat sie in der Wahrnehmung der Menschen nicht eingelöst.“ Die eigene Erzählung, die Vision, die Begeisterung – das alles fehlt.

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