Großbritannien sucht neuen Premier Das blonde U-Boot auf der Zielgeraden

London · Boris Johnson ist der Sieg im Tory-Wahlkampf kaum noch zu nehmen. Mit seiner harten Linie liegt er bei den Parteimitgliedern richtig. Ob er realistische Chancen hat, Gehör in Brüssel zu finden, steht auf einem anderen Blatt.

Das U-Boot taucht auf. Zum ersten Mal im Wahlkampf um die Nachfolge von Premierministerin Theresa May stellte sich Boris Johnson am Dienstagabend einer TV-Debatte mit seinem Mitbewerber Jeremy Hunt. Der 55-Jährige hat sich den Spitznamen „Yellow Submarine“ nicht nur wegen seines knallblonden Haarschopfes verdient. Sein Wahlkampfteam hielt es für geboten, ihn möglichst lange auf Tauchstation zu halten. Man vermied einfach die Fragen von kritischen Journalisten. Denn es gibt nur einen, der Boris Johnson den Sieg beim Kampf um den Parteivorsitz der Konservativen nehmen kann: Boris Johnson selbst.

Sein loses Mundwerk hat ihn in der Vergangenheit schon allzu oft bloßgestellt. Die flotten Sprüche eines Boris Johnson mögen bei seinen Fans ankommen, aber die Grenze zur Entgleisung ist nie weit. Er schrieb über „das Melonen-Grinsen“ von „Neger-Babys“ und verglich Burka-Trägerinnen mit Bankräubern. Da klang oft ein Schuss Rassismus mit. Und völlig unangemessen wurde es, als Boris britischer Außenminister wurde und seine Sentenzen auf der Weltbühne zum Besten gab. Da klang es nur frivol bis krass. Libyen, sagte Chefdiplomat Johnson, hätte das Zeug zum Touristenparadies, „man müsse nur die Leichen wegräumen“. Taktloser geht es nicht.

Jetzt fand der Premierminister in spe doch noch den Weg in das Fernsehstudio des Senders ITV, um sich den Fallstricken einer Live-Debatte und der direkten Auseinandersetzung mit seinem Herausforderer Jeremy Hunt zu stellen. Doch das Risiko ist kalkuliert. Der Sieg ist ihm kaum noch zu nehmen. Bei diesem Rennen um das höchste Amt im Staat – denn der Parteivorsitzende der Torys wird automatisch auch Premierminister – entscheiden allein die rund 160.000 Mitglieder der Konservativen Partei. Unter denen ist Johnson eindeutig der Spitzenreiter. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov befragte am Anfang der Kampagne die Parteimitglieder, wen sie bevorzugten. Von denen, die sich schon entschieden hatten, sprachen sich 74 Prozent für Johnson und 26 Prozent für Hunt aus. Das ist ein Abstand von 48 Punkten. In der vergangenen Woche fragte YouGov nochmals nach. Der Abstand von 48 Prozentpunkten war unverändert. Am Wochenende wurden die Wahlunterlagen an das Parteivolk verschickt. Viele werden ihr Kreuzchen sofort gemacht und den Wahlzettel zurückgeschickt haben. Gut möglich also, dass zwei Wochen vor dem Ende des Tory-Wahlkampfs die Entscheidung schon gefallen ist.

Im Grunde hatte Jeremy Hunt von Anfang kaum eine Chance. Sein Spitzname lautet „Theresa in Hosen“: Er war, wie die Noch-Premierministerin May, im Referendum ein „Remainer“, der für den Verbleib in der EU gestimmt hatte. So etwas vergisst – oder verzeiht – die Basis nicht. Beim Parteivolk der Konservativen ist die Radikalisierung weit vorangeschritten. Wären zu Zeiten des Referendums noch viele Torys mit einem Austritt aus der EU nach dem Norwegen-Modell zufrieden gewesen, so muss es heute ein möglichst harter Brexit sein, womöglich auch ein No-Deal-Brexit, ein ungeregelter Austritt. Nichts auf der Welt scheint wichtiger für die Mitglieder der Konservativen Partei, als dass der Austritt am 31. Oktober auch tatsächlich erfolgt. Wie eine Umfrage zeigt, will eine Mehrheit von ihnen den Brexit, selbst wenn er zu einem Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs, zu schwerem Schaden für die Wirtschaft und zur Zerstörung der Konservativen Partei selbst führen würde.

Und Boris Johnson bedient diese Klientel passgenau. Er hat einen „Do-or-Die“-Brexit zum 31. Oktober angekündigt. Alles oder nichts, ausgestiegen wird auf jeden Fall, eine weitere Verlängerung soll es nicht geben. Johnson verfolgt eine Tabula-Rasa-Strategie. Er will als derjenige Politiker in die Geschichtsbücher eingehen, der Großbritannien aus der EU geführt hat. Mit seinem Halloween-Brexit, komme was wolle, will er vollendete Tatsachen schaffen. Um die Konsequenzen kann man sich dann später kümmern. Der Blondschopf behauptet dabei, dass die Chancen eines No-Deals bei „eins zu einer Million“ liegen würden. Denn er wolle, sobald er ins Amt gekommen sei, Gespräche mit Brüssel aufnehmen, um das Austrittsabkommen wieder aufzuschnüren. Johnson verlangt Änderungen beim sogenannten Backstop, der eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik verhindern soll. Auch will er erst dann die vereinbarten finanziellen Verbindlichkeiten Großbritanniens von rund 43 Milliarden Euro zahlen, wenn die EU ihm einen besseren Deal anbietet: „Um einen guten Vertrag zu bekommen“, tönte er, „ist Geld ein großartiges Lösungsmittel und Schmierstoff.“

Mit seiner harten Linie liegt Johnson bei den Parteimitgliedern richtig. Ob er realistische Chancen hat, Gehör in Brüssel zu finden, steht auf einem anderen Blatt. EU-Chefunterhändler Michel Barnier, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk haben wiederholt unterstrichen, dass der Austrittsvertrag nicht nachverhandelt werden kann. Könnte es sein, dass Johnson einknicken wird? Optimisten hoffen, dass sich der 55-Jährige als „knetbar“ erweist. Denn Boris war in der Vergangenheit oft ein politisches Chamäleon, das seine Positionen geschmeidig ändern konnte. Die Hoffnung ist, dass ein Premierminister Johnson die harsche Realität der Konsequenzen eines harten Brexit erkennt und umsteuert. Der reine Überlebenstrieb mag ihn leiten. Mit einer No-Deal-Strategie riskiert Johnson, dass ihm das Unterhaus das Misstrauen ausspricht. Er könnte, wenn er vor dem 31. Oktober abgewählt würde, zum Premierminister mit der kürzesten Amtszeit werden. Der vorherige Rekordhalter war George Canning mit 119 Tagen im Job. Der starb aber an an einer Lungenentzündung.

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