Professor Stefan Rohrbacher Hier lässt sich viel Modellhaftes entdecken

Stefan Rohrbacher nennt's beim Namen: "Ich habe niemals in Neuss gelebt, habe hier keinerlei familiäre Bindungen, und trotzdem fühle ich mich dieser Stadt und der Geschichte ihrer jüdischen Minderheit sehr verbunden. Man kann sich halt auch über Jahre hinweg für einen Ort interessieren ohne den Hintergrund einer persönlichen Beziehung." "Es war der Zufall, der mich nach Neuss geführt hat": Professor Stefan Rohrbacher. NGZ-Foto: A. Woitschützke

Stefan Rohrbacher nennt's beim Namen: "Ich habe niemals in Neuss gelebt, habe hier keinerlei familiäre Bindungen, und trotzdem fühle ich mich dieser Stadt und der Geschichte ihrer jüdischen Minderheit sehr verbunden. Man kann sich halt auch über Jahre hinweg für einen Ort interessieren ohne den Hintergrund einer persönlichen Beziehung." "Es war der Zufall, der mich nach Neuss geführt hat": Professor Stefan Rohrbacher. NGZ-Foto: A. Woitschützke

Rohrbacher, Verfasser des 1986 erschienenen und bis heute als Standardwerk geltenden Buches "Juden in Neuss", wurde soeben in den Rat der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gewählt (zu der die 500 Juden an Rhein und Erft — noch — gehören) und zog am Donnerstagabend mit seinen lebendigen Ausführungen das Publikum in der Volkshochschule in seinen Bann.

Die akademische Laufbahn des Gelehrten kann sich sehen lassen: unter anderem Studium der Judaistik in Köln und Berlin, 1991 promoviert, Mitarbeiter der Historischen Kommission in Berlin und am Institut für Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, Professor für Jüdische Studien an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg, seit diesem Jahr Inhaber eines neuen Lehrstuhls an der Heinrich-Heine-Universität, mehrfacher Buchautor, Vorsitzender des Verbandes der Judaisten in Deutschland. Es gibt also kaum einen profunderen Kenner, wenn's um die Juden und ihre Geschichte geht.

Die Zuhörer in Neuss registrierten das sehr schnell. "Es war der Zufall, der mich nach Neuss geführt hat, und es war eine glückliche Idee, mich für meine Untersuchung für eine nicht besonders bemerkenswerte jüdische Gemeinde entschieden zu haben. Hier lässt sich nämlich viel Modellhaftes entdecken", sagte Rohrbacher. Wie sein erster Tag in der Quirinusstadt aussah, weiß er noch genau: "Ich habe mir die damalige Gedenktafel an die Pogromnacht von 1938 angeschaut und bin dann ins Stadtarchiv gegangen."

Der damalige Student stieß in Neuss "auf Beispielhaftes vom normalen deutschen Judentum des 19. und 20. Jahrhunderts". Es habe geholfen, "den Klischees, den Assoziationen von den großstädtischen jüdischen Gemeinden, von deren Einfluss auf das kulturelle Leben, von den Oppenheims und Rothschilds zu entgehen". Begründung: "Wir vergessen oft, dass die Milieubeschreibung großer Gemeinden wie in Berlin nicht allgemeingültig ist. Die meisten Juden lebten in mittleren Städten, in einem bürgerlich orientierten Umfeld, sehr nah an den ländlichen Wurzeln. Zahlreiche Gemeinden zählten nicht nach Tausenden, sondern nach Hunderten."

In Neuss war das etwa so. "Es handelte sich um eine unspektakuläre jüdische Gemeinde, die keine Chance hatte, mehr als eine Fußnote zu werden", sagte Rohrbacher. Er bezeichnete es als "basso continuo" seiner Untersuchungen, "wie normal Neuss, seine jüdische Geschichte, seine Schrecknisse und seine Harmonien waren". Der Blick auf die Anfänge jüdischen Lebens in Neuss widerlegt "den Mythos von der Wohlhabenheit und dem mühelosen Aufstieg ins städtische Bürgertum", wie der Gast aus Düsseldorf betonte. Es gebe vielmehr beeindruckende und zugleich bedrückende Zeugnisse von der Armut der Juden.

"Sie waren einfache, fromme Leute, beseelt von einer pragmatischen Religiösität, die auch schon einmal zu Problemen führte, wenn zum Beispiel jemand am Sabbat nicht nur Bürgerwache ging", hieß es. Der allmähliche, mühsame Weg ins Kleinbürgertum begann jedoch irgendwann. "Mit der Zeit wuchs der Unterschied zwischen der jüdischen Metzgerei an der Münsterstraße und der jüdischen Industriellenfamilie an der Friedrichstraße — das waren zwei verschiedene Welten, auch wenn sie in die gleiche kleine Synagoge an der Neustraße gingen", so Rohrbacher.

Plötzlich gehörte die jüdische Führungsschicht zu den Honoratioren, und 1867 entstand die große Synagoge an der Promenadenstraße. O-Ton Rohrbacher: "Ich glaube, dass die Epoche zwischen der März-Revolution von 1848 und dem Aufbranden des Antisemitismus im Kaiserreich die gute Zeit der Neusser Juden war, in der sie unaufgeregt und selbstverständlich, aber nicht demonstrativ Teil des städtischen Lebens waren." Der erste Niedergang erfolgt um 1900. Rohrbacher konstatierte in den jüdischen Gemeinden "eine unumkehrbare Tendenz zu Überalterung und Aussterben" sowie "regelrechte Judenverfolgungen, zum Teil ausgelöst durch Gerüchte über angebliche Ritualmorde".

Dem Antisemitischen Verein in Neuss sei aber kein dauerhafter Erfolg beschienen gewesen. "Bedeutsamer war die Drangsal, der Juden im öffentlichen Raum ausgesetzt waren. Ein Drittel der Gemeinde verließ die Stadt, es war die erste Fluchtbewegung", weiß der Wissenschaftler. Dennoch habe danach — wenn auch unter gewissen Vorbehalten — "eine verwunderliche Rückkehr zur entspannten Normalität" eingesetzt, die erst mit den von den Nationalsozialisten verursachten Verheerungen ein abruptes Ende fand.

Für umso wichtiger hält Rohrbacher die 1988 von der Stadt ausgesprochene und von den überlebenden ehemaligen jüdischen Mitbürgern angenommene Einladung nach Neuss. "Die alten Menschen haben damals einen gewaltigen Schritt gemacht in die Stadt, von der sie sich geschworen hatten, sie nie wieder zu betreten. Das war ein versöhnliches, ein tröstliches Zeichen", so Rohrbacher.

Für die Zukunft wünscht er sich "eine gelassene Normalität, in der die Juden nichts Bedrohliches darin finden, ihre eigenen Besonderheiten zu zeigen". Der Professor hat sich übrigens nicht nur mit seinem Buch ein kleines Denkmal in Neuss gesetzt. Von ihm stammt auch das Modell der alten Synagoge, das im Museum "Haus Rottels" zu sehen ist. "Das hab' ich gebastelt, und deswegen durfte meine Familie eine Woche lang das Wohnzimmer nicht betreten", schmunzelt der Experte. Thilo Zimmermann

(NGZ)
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