„Jüdisches Leben in Neuss“ (VI) Der Traum vom Glück in Brüssel zerbarst

Sie war jung und optimistisch, sie wollte nicht glauben, dass es keine Zukunft für sie gab, und sie starb mit 26 Jahren qualvoll in einem Gaswagen. Nur wenige Schicksale jüdischer Frauen aus Neuss sind so detailliert bekannt wie das der Helga Neuburg von der Nordkanalallee. "Sie war ein lebhaftes Mädchen, das schnell Freundschaften schloss", heißt es in der Dokumentation "Neusser Frauen in Geschichte und Gegenwart", die vom Stadtarchiv veröffentlicht worden ist. Kurzes Glück: Helga Neuburg (unten rechts) beim Karneval der Neusser jüdischen Gemeinde im Jahr 1927. Die junge Frau war den Wirren den Dritten Reichs später fast schutzlos ausgeliefert, geriet mit den damaligen Machthabern in Konflikt, verlor ihre Zuversicht nicht, starb aber schon mit 26 Jahren auf qualvolle Weise. NGZ-Repro: A. Woitschützke

Sie war jung und optimistisch, sie wollte nicht glauben, dass es keine Zukunft für sie gab, und sie starb mit 26 Jahren qualvoll in einem Gaswagen. Nur wenige Schicksale jüdischer Frauen aus Neuss sind so detailliert bekannt wie das der Helga Neuburg von der Nordkanalallee. "Sie war ein lebhaftes Mädchen, das schnell Freundschaften schloss", heißt es in der Dokumentation "Neusser Frauen in Geschichte und Gegenwart", die vom Stadtarchiv veröffentlicht worden ist. Kurzes Glück: Helga Neuburg (unten rechts) beim Karneval der Neusser jüdischen Gemeinde im Jahr 1927. Die junge Frau war den Wirren den Dritten Reichs später fast schutzlos ausgeliefert, geriet mit den damaligen Machthabern in Konflikt, verlor ihre Zuversicht nicht, starb aber schon mit 26 Jahren auf qualvolle Weise. NGZ-Repro: A. Woitschützke

Der heutige Judaistik-Professor Stefan Rohrbacher beschreibt darin ein Leben, das im März 1916 in der Quirinusstadt seinen Lauf nahm und 1942 ein brutales Ende fand. Helga war das einzige Kind von Elise und Julius Neuburg, der als Geschäftsführer und Teilhaber einer kleinen Krawattenfabrik arbeitete. Sie besuchte die Schule Marienberg und wuchs in einer Familie auf, in der die Religion eine große Rolle spielte.

"Samstags gingen die Männer in Frack und Zylinder zum Gottesdienst in die Synagoge an der Promenade; danach kam man zum gemeinsamen Essen bei den Großeltern zusammen, das der Woche den festlichen Höhepunkt gab. Wenn der Großvater nach dem Essen die Smires anstimmte, die alten Hymnen zum Sabbatmahl, dann schimmerte unverkennbar ein schwerer, rheinischer Zungenschlag durch die hebräischen Worte. So klang es wohl in den meisten jüdischen Familien in Neuss", heißt es.

Nach dem Schulabschluss begann Helga Neuburg eine Lehre als Hutmacherin, während ihr Vater die Fabrik aufgab und sich als Futtermittelhändler versuchte. 1935 musste die Familie ihre Wohnung aufgeben und zu Helgas Großeltern ziehen. Zu den wirtschaftlichen kamen politische Sorgen. Trotz wüster Hetze gegen Juden wähnte man sich aber zuerst einigermaßen sicher. Schließlich hatte der Vater im Ersten Weltkrieg als deutscher Soldat gekämpft, der Onkel war sogar gefallen. Diesen Treuebeweis würde niemand leugnen.

Der Schatten auf dem Leben der Neuburgs wurde jedoch immer dunkler. Helgas Freunde wanderten nach Übersee aus, sie selbst hatte wegen finanzieller und bürokratischer Hürden keine Chance dazu. Die junge Neusserin lernte vielmehr den polnischen Juden Josef Glückstein kennen, der in der Pogromnacht 1938 verhaftet wurde und das Land verlassen sollte. Mangels gültiger Papiere ließ er sich von Schleppern über eine grüne Grenze nach Belgien bringen. Helga hoffte, ihm später nach Brüssel folgen zu können.

Doch der Traum vom Glück dort zerbarst. Sie kam in "Schutzhaft", nachdem sie vergeblich versucht hatte, Josefs Bruder Julius die Ausreise zu ermöglichen. Die Begründung für die Festnahme steht im Buch "Juden in Neuss" zu lesen: "Die Neuburg hat den polnischen Juden Julius Glückstein dem holländischen Staatsangehörigen Wilhelmus F., von dem sie wusste, dass dieser sich mit der Fälschung von Pässen und Verschiebung von Juden in das Ausland beschäftigt, zugeführt und zum Teil an den Vorbereitungen zur illegalen Ausreise des Glückstein in der Wohnung des F. und seiner Schwägerin teilgenommen."

Ein Düsseldorfer Schöffengericht verurteilte Helga zu der milden Geldstrafe von 75 Mark. Ihr Kontakt nach Brüssel riss jedoch ab, sie lernte einen anderen jungen Mann, Edgar Vogelsang aus Düsseldorf, kennen und heiratete ihn 1941. "Helga und Edgar verfielen immer wieder in tiefe Niedergeschlagenheit, aber immer wieder versuchten sie auch, sich gegenseitig Mut zu machen und auch die Eltern und Großeltern aufzumuntern, die inzwischen das Schlimmste befürchteten. Sie ahnten freilich nicht, dass das Schlimmste tatsächlich jenseits ihrer Vorstellung lag", erinnert das Stadtarchiv.

Die Neuburgs wurden zu einem Arbeitseinsatz einbestellt. Vier Tage nach der Hochzeit mussten sie sich am Neusser Schlachthof einfinden. Mit einem Zug und tausend weiteren rheinischen Juden erfolgte der Transport ins Ghetto von Litzmannstadt (Lodz). Not und Elend in Helgas letztem Lebensjahr müssen unbeschreiblich gewesen sein. Am 23. September 1942 starben sie und ihre Eltern. Sie sind vermutlich nach Chelmno geschafft und in einen Gaswagen getrieben worden. -tz.-

(NGZ)
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