Situation und Perspektiven jüdischer Gemeinden Wir müssen unsere Rabbiner importieren

Die Integration der jüdischen Zuwanderer aus dem Osten Europas hängt auch wesentlich von der Aufnahmebereitschaft der deutschen Bevölkerung ab. Diese Meinung vertrat Herbert Rubinstein am Dienstagabend in der Volkshochschule (VHS) Neuss. Er sprach auf Einladung von VHS-Leiterin Christel Voß-Goldstein über "Situation und Perspektiven des jüdischen Gemeindelebens in der Region heute". Jüdisches Leben in Neuss und Umgebung stand im Mittelpunkt, als Volkshochschulleiterin Christel Voß-Goldstein Herbert Rubinstein vom Gemeindeverband Nordrhein begrüßte. NGZ-Foto: A. Woitschützke

Die Integration der jüdischen Zuwanderer aus dem Osten Europas hängt auch wesentlich von der Aufnahmebereitschaft der deutschen Bevölkerung ab. Diese Meinung vertrat Herbert Rubinstein am Dienstagabend in der Volkshochschule (VHS) Neuss. Er sprach auf Einladung von VHS-Leiterin Christel Voß-Goldstein über "Situation und Perspektiven des jüdischen Gemeindelebens in der Region heute". Jüdisches Leben in Neuss und Umgebung stand im Mittelpunkt, als Volkshochschulleiterin Christel Voß-Goldstein Herbert Rubinstein vom Gemeindeverband Nordrhein begrüßte. NGZ-Foto: A. Woitschützke

Rubinstein lebt seit 1956 in Düsseldorf. Der heute 66-Jährige war Lederwaren- Hersteller und ehrenamtlich in Gemeinderat und Vorstand der Juden in der Landeshauptstadt tätig, ehe er vor sechs Jahren hauptamtlicher Geschäftsführer des "Landesverbands der jüdischen Gemeinden von Nordrhein" wurde. Zu diesem Zusammenschluss, dem größten dieser Art in Nordrhein- Westfalen, gehören acht Gemeinden mit 16 000 Mitgliedern.

Rubinstein schlug den weiten Bogen von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft jüdischen Gemeindelebens. "Juden leben seit mehr als 2000 Jahren, also bereits seit der Zeit der Römer, im Bereich des heutigen Deutschland. Im so genannten Dritten Reich bis 1930 waren es zirka 600 000. Heute gibt es knapp 100 000 Juden in den 86 deutschen Gemeinden — also eine verschwindend kleine Minderheit nach Zahlen, nach ihrem Engagement aber ein Partner, dem man Gehör schenken sollte", so der Redner.

Rubinstein verschwieg nicht die Probleme beim Neubeginn. "Bis etwa 1985 drohten jüdische Kultusgemeinden auszusterben wegen der Überalterung der Mitglieder und dem Wegzug der wenigen Jugendlichen nach Israel oder Amerika, nach Frankfurt, Berlin oder München. Wir haben keine Infrastruktur, keine Rabbinerseminare mehr aufgebaut, und nun wachsen diese Gemeinden durch den Zuzug von Juden aus Russland, Weißrussland, der Ukraine, aus Moldawien und aus dem Baltikum plötzlich wieder an." Eine Folge: "Wir müssen unsere Rabbiner importieren." Was gar nicht so einfach ist, wie der Fachmann deutlich machte.

"Die Auswahl ist gering, Deutschland ist nicht unbedingt die erste Wahl, die meisten sind nicht deutschsprachig, und wenn sie dann doch kommen, dann stehen sie zwischen allen religiösen Strömungen." In Deutschland gibt es nämlich nur so genannte Einheitsgemeinden. Was es damit auf sich hat, erklärte Rubinstein so: "Unter Berücksichtigung der wenigen Menschen, die sich zusammenfanden, wurde entschieden, dass alle Richtungen des Judentums unter einem Dach Platz bekommen sollen. Der Gottesdienst wurde allerdings bis vor etwa fünf Jahren überall nach der jüdischen Tradition ausgerichtet — Männer und Frauen sind getrennt, die Gebetssprache ist Hebräisch.

Nun werden Stimmen laut, die einen liberaleren Gottesdienst bevorzugen. Der Unterschied liegt — verkürzt gesagt — darin, dass Frauen und Männer zusammensitzen, dass Teile der Gebete zusätzlich zum Hebräischen in Deutsch gesprochen werden und dass Frauen mitwirken können." Unterschiedliche religiöse Auffassungen sind aber nur ein kontroverses Thema, das die Juden der Region beschäftigt.

Ein zweites besteht im Gegensatz zwischen den alteingesessenen und den neu hinzugekommenen Gemeindemitgliedern. "Bringen wir es auf den Punkt: Die Erwartungen der 'Neuen' waren groß und unterschieden sich sehr von den Vorstellungen der 'Alten''", sagte der Geschäftsführer. Der Gegensatz könne kaum krasser sein: Hier die angepasste, deutschsprachige Gemeinde, stolz auf den Staat Israel, aber Fürsprecher der neuen Bundesrepublik — dort die vorwiegend Russisch sprechenden Menschen, die meist aus ärmsten Verhältnissen stammen und denen der Sozialismus die These von der Religion als "Opium des Volkes" einhämmerte.

Herbert Rubinstein ließ bei seiner Innenschau keinen Zweifel daran, dass die Perspektive für die Zukunft nur im Miteinander liegen kann. In Berlin gebe es etwa sieben Synagogen unterschiedlicher Strömung unter dem Dach einer einzigen Gemeinde ("die Pluralität im Judentum ist seit altersher vorhanden"). Und was die unterschiedlich großen sprachlichen und theologischen Kenntnisse angehe, so seien gegenseitige Rücksichtnahme und die Bereitschaft, Fortbildungskurse anzubieten beziehungsweise zu besuchen, unabdingbar.

Kurz: "Es darf keinerlei Berührungsängste geben." Aber dies gelte nicht nur für das Verhältnis zwischen Juden, sondern auch zwischen Juden und Nicht-Juden. O-Ton Rubinstein: "An der Universität Düsseldorf ist ein Institut für Jüdische Studien gegründet worden, und eine Abteilung für Jiddistik gibt es dort auch. Düsseldorf ist somit die größte jüdische Fakultät in Deutschland, und das ist ein Zeichen, dass sich etwas zum Positiven entwickelt." Thilo Zimmermann

(NGZ)
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