80 Jahre nach der Pogromnacht Erinnerung an das Schicksal Neusser Juden

Im Stadtarchiv berichtete Gaby Glassman-Simons, Nachfahrin der Inhaber der Mehl- und Ölmühlen Simons, über ihre jüdischen Vorfahren.

 Gaby Glassman-Simons (Mitte) bei der Gedenkfeier zur Pogromnacht an der Promenadenstraße in Neuss.

Gaby Glassman-Simons (Mitte) bei der Gedenkfeier zur Pogromnacht an der Promenadenstraße in Neuss.

Foto: Woitschuetzke,Andreas (woi)

Auf dem alten Bild, das der Beamer auf die Leinwand projiziert, ist die „Dampfmühle N. Simons“ gut zu erkennen. Die rund 100 Zuhörer im voll besetzten Vortragssaal des Stadtarchivs verstehen sofort: Heute geht es um ein Stück Neusser Geschichte, genauer gesagt, um die jüdische Unternehmerfamilie Simons, die ehemaligen Inhaber der Simons-Mühlen. Erzählt wird die Geschichte von Gaby Glassman-Simons, Enkelin von Paul Simons, dem letzten Inhaber der Ölmühle Simons. Ihr Vortrag sei „eine Mahnung und Erinnerung, dass in Neuss während des Nazi-Regimes viele Juden misshandelt und verhaftet wurden“, sagte Stadtarchivleiter Jens Metzdorf bei der Vorstellung der Rednerin, die zum Gedenken an die Reichspogromnacht vor 80 Jahren von der Stadt eingeladen worden war. „Ich bin dankbar, dass es mir möglich ist, über den Beitrag meiner Familie zum Leben in dieser Stadt zu erzählen und der ehemaligen Juden der Neusser Gemeinde zu gedenken“, sagte die in Holland geborene Engländerin, die in London lebt, in fließendem Deutsch.

Unter Glassmans Zuhörern am Donnerstagabend war Stefan Rohrbacher, der in seinem 1986 veröffentlichten Buch „Juden in Neuss“ auch die Geschichte der Familie Simons schildert – unter Mithilfe von Gaby Glassman. Zu dem Werk Rohrbachers habe sie mit Material über ihren Vater René und Fotos seines Cousins Erwin Simons beigetragen. „Umgekehrt hätte ich ohne seine Forschung kaum Kenntnis von meinen Simons-Vorfahren gehabt“, sagt die Nachfahrin. Nach und nach habe sie mit Unterstützung Rohrbachers sowie aus Notizen, Briefen und Gedichten ihres 1980 verstorbenen Vaters ihre Familiengeschichte bis in die Anfänge des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt. Detailliert beschrieb sie, wie sich ihr Ur-Urgroßvater Nathan Simons 1840 in Neuss niederließ und 1861 die erste Mühle am Obertor in Betrieb nahm; wenig später eine größere dampfbetriebene Walzenmühle. Das Mühlengeschäft gab er an seinen Sohn Isaak und der wiederum an Gaby Glassmans Großvater weiter. Letzterer verkaufte die Ölmühle Simons im Jahr 1929 an das Unternehmen Walter Rau. Zu Beginn des Nazi-Regimes 1933 hatten sich 227 Personen in Neuss zum Judentum bekannt, darunter Gaby Glassmans Großeltern Paul und Ida Simons. Wie mindestens weitere 117 der damals in Neuss lebenden Juden haben die Simons den Holocaust nicht überlebt. Sie wurden 1943 im Vernichtungslager Sobibor in Polen umgebracht. Auf wundersame Weise habe ihr 1904 in Neuss geborener Vater den Krieg überlebt, indem er zunächst nach Amsterdam und dann nach Frankreich geflohen sei, erzählte Glassman.

Das Gedenken an die Pogromnacht am 9. November 1938 und der Vortrag seien „eine Erinnerung daran, dass das Geschehene einen Einfluss auf die Gegenwart hat, sowohl für die Opfer als auch deren Nachfahren“, sagte Metzdorf. Wie sehr die Nachfahren leiden, erfährt Psychotherapeutin Gaby Glassman täglich in Gesprächen mit Überlebenden und ihren Familien. „Häufig lernte die zweite Generation, außerhalb der Familie niemandem zu vertrauen, was ihre Beziehungen zu anderen beeinflusste und zu Angst vor Zurückweisung führte.“ Die Schrecken des Holocausts seien zwar vorbei, für Betroffene und Angehörige jedoch niemals zu vergessen.

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