Kolumne Denkanstoß Müssen wir immer alles haben – billig und sofort?

Mönchengladbach · Bescheidenheit könnte in der heutigen Zeit eine ganz neue Bedeutung erhalten – als Haltung einer „Ökonomie des Genug“, findet unser Kolumnist.

  Die Reiselust mit dem Flugzeug ist wieder sehr groß, mit ihr steigt aber auch der CO2-Ausstoß.

Die Reiselust mit dem Flugzeug ist wieder sehr groß, mit ihr steigt aber auch der CO2-Ausstoß.

Foto: dpa/Federico Gambarini

  Viele scheinbare Selbstverständlichkeiten sind uns abhandengekommen. Plötzlich finden wir uns in Widersprüchlichkeiten wieder: Um ein Abstürzen der Wirtschaft zu verhindern, sollen Kohlekraftwerke länger in Betrieb bleiben, obwohl das schädlich fürs Klima ist. Die Reiselust mit dem Flugzeug ist wieder sehr groß, mit ihr steigt aber auch der CO2-Ausstoß. Lebensmittel werden immer teurer, aber wir wissen auch, dass billige Lebensmittel nur auf Kosten von angemessenen Arbeitsbedingungen und guter Tierhaltung erzeugt werden können. Es ist Sommer, und wir sollen trotzdem Gas sparen. Wir feiern wieder große Feste und wissen doch, dass dies die Corona-Infektionen auch im Sommer kräftig antreibt. Es kann einem der Kopf schwirren…

Wie kam es eigentlich, dass wir dachten, wir könnten immer alles haben, billig und sofort? Alles, was wir tun und konsumieren, hat Konsequenzen. Es ist wohl an der Zeit, die Koordinaten des Lebens zu überprüfen. Ist vielleicht „Bescheidenheit“ eine alte Tugend, die ganz modern und aktuell wieder gebraucht wird, wie manche Kulturwissenschaftler meinen? Der Begriff Bescheidenheit hatte ja viel Patina angesetzt, war zur Unterdrückung besonders von Mädchen missbraucht worden und war zumindest in dieser Perspektive zurecht aus der Mode gekommen. „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr“, pflegte meine Oma scherzhaft zu sagen. Aber als Haltung einer „Ökonomie des Genug“ könnte Bescheidenheit eine ganz neue Bedeutung gewinnen. In charakterlicher Stärke da und dort persönlichen Verzicht üben, Genügsamkeit mit den Umständen zeigen und Bescheidenheit als Haltung einander gegenüber zu praktizieren, könnte angesichts der großen Herausforderungen, die uns jeden Tag in den Nachrichten vor Augen geführt werden, noch ganz wichtig werden.

Aber Wichtiges muss man wirklich üben. Besonders, wenn es ungewohnt ist. Da muss ich bei mir selbst anfangen. Und denen, die schon jetzt allzu wenig haben, muss geholfen werden. Dennoch ist solche Stärke zu trainieren wohl besser, als sich irgendwann nur der (konjunkturellen, finanziellen, politischen, klimatischen) Not fügen zu müssen. „Vor dem Donner leuchtet der Blitz, und dem Bescheidenen geht große Gunst voraus“, meint das weisheitliche Buch des Jesus Sirach in der Bibel zwischen dem Alten und Neuen Testament.

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