Jugendamt in Geldern „Wir glauben immer erstmal dem Kind“

Geldern · Jugendämter haben nur selten einen guten Ruf. Walburga Bons, Leiterin des Jugendamts in Geldern, und Sozialdezernent Helmut Holla sprechen darüber, wann Eltern nicht erziehungsfähig sind und wann der richtige Zeitpunkt zum Eingreifen in eine Familie ist.

 Walburga Bons ist Leiterin des Jugendamts der Stadt Geldern.

Walburga Bons ist Leiterin des Jugendamts der Stadt Geldern.

Foto: Evers, Gottfried (eve)

Wann ist ein Kind besser in einer Pflegefamilie aufgehoben als bei seinen Eltern?

Walburga Bons Wenn wir unter Drogen- oder Alkoholeinfluss stehende Elternteile vorfinden, der Kühlschrank leer ist und das Kind im Müll krabbelt und akut keine Versorgung mehr stattfindet, können wir das Kind dort nicht so lassen. Dann kann es sein, dass wir das Kind in eine Bereitschaftspflege nehmen. Wir schauen, ob die Eltern bereit sind mitzuarbeiten und ob es die Möglichkeit gibt, das Kind zurückzuführen. Wenn die Mitarbeit der Eltern nicht so ist, wie wir es uns wünschen, gibt es ein Gerichtsverfahren und ein Gutachten, das eine Aussage zur Erziehungsfähigkeit trifft.

Wie erfahren Sie, dass es Probleme in einer Familie gibt?

Bons 70 Prozent der Meldungen sind anonym und kommen aus dem Umfeld der Familie. Es gibt natürlich auch Institutionen wie Kindergärten, Ärzte und Schulen, die hausintern zu dem Ergebnis kommen: Hier liegt eine Kindeswohlgefährdung vor und die Eltern sind nicht bereit, die Hilfestellungen der Institution zu nutzen.

Kommt es auch vor, dass sich Kinder oder Jugendliche selbst melden?

Bons Dieses Jahr war es tatsächlich so, dass ein Drittel der Meldungen von Kindern kamen, die sich an einen Lehrer wenden oder selbstständig zum Jugendamt kommen. Da schreibt das Gesetz vor, dass wir erst einmal in Obhut nehmen und die Situation klären müssen. Wenigstens 80 Prozent dieser Kinder gehen dann zurück in den Haushalt mit ambulanter Hilfe. In unserem Interesse liegt es nicht, Eltern und Kinder zu trennen.

Angenommen ein Kind erzählt, dass es geschlagen wird, die Eltern bestreiten das. Wie gehen Sie vor?

Bons Wir sind für die Kinder da und glauben immer erstmal dem Kind, wenn es sich an uns wendet.

Helmut Holla Wir sind Anwalt des Kindes, allerdings hatten wir auch schon Fälle, in denen die Kinder gelogen haben.

Bons Da waren die Nike-Schuhe zum Beispiel das Problem.

Holla Aber wir nehmen erstmal die Aussage des Kindes ernst und versuchen, Schritt für Schritt herauszufinden, warum sich das Kind bei uns meldet.

Was passiert, wenn sich die Eltern sträuben?

Bons Wir haben 72 Stunden Zeit und müssen dann das Familiengericht informieren. Das Amtsgericht muss die Inobhutnahme bestätigen. Es ist oft so, dass die Eltern bei einer drohenden Inobhutnahme bereit sind, Hilfe anzunehmen. Es werden in Schutzkonzepten ganz engmaschige Regeln aufgestellt. Dazu gehören Hausbesuche am Wochenende, strenge Kontrollen.

Holla Es ist auch gut und richtig so, dass mit dem Amtsgericht eine unabhängige Instanz unsere Entscheidungen überprüft.

Wie wird den Familien geholfen, vor und nach der Inobhutnahme?

Bons Unsere Hauptinstrumente sind die sozialpädagogische Familienhilfe, das Haushaltsorganisationstraining, wir arbeiten mit Schuldnerberatungen und Ärzten zusammen. Die Wirksamkeit kann man im Vorhinein nicht kalkulieren.  Ziel ist es, dass die Familien irgendwann selbst in der Lage sind, ohne fremde Hilfe ihr Leben zu organisieren.

Wann sind Eltern nicht dazu geeignet, Kinder zu erziehen?

Holla Da gibt es objektive und emotionale Gründe. Emotional ist sehr schwer zu belegen, das dauert meistens mehr als eineinhalb Jahre, bis ein Gutachten da ist.

Bons Ein Beispiel: Es gibt psychiatrische Störungsbilder bei Eltern, die dazu führen können, dass die Erziehungseignung nur mit langfristiger Therapie der Eltern wieder hergestellt werden kann. Wenn sich die Eltern dann nicht einer Therapie unterziehen, ist es auch nicht möglich, die Kinder zurückzugeben. Es gibt auch Störungsbilder, die dazu führen, dass die Eltern mit einer bestimmten Anzahl von Kindern nicht zurechtkommen. Ihnen fehlen dann Kernkompetenzen. Wenn ich selbst nicht in der Lage bin, morgens aufzustehen, dann kann ich auch nicht dafür sorgen, dass meine Kinder morgens zur Schule gehen.

Ist es ein Alarmsignal, wenn die Zahl der Meldungen von Kindeswohlgefährdungen steigt?

Holla Die Leute sind deutlich aufmerksamer geworden und melden mehr. Allerdings muss man auch sagen, dass wir auch die Fälle der Nachbarschaftsstreitigkeiten registrieren. Nachbarn, die sich nicht verstehen, schwärzen sich dann untereinander an. Das ist unglaublich, ist aber leider so.

Jugendämter sind ja oftmals die Bösen – sie intervenieren zu spät bei Misshandlungen oder mischen sich zu früh in Familienangelegenheiten ein. Wie findet man die Balance, den richtigen Zeitpunkt?

Bons Wir sichern unsere Entscheidungen immer übers Gericht ab. Die können auch entscheiden, dass wir ein Kind sofort zurückführen müssen, das ist aber meines Wissens nach in Geldern noch nicht vorgekommen Natürlich ist man, je nachdem auf welchem Stuhl man sitzt, der Gute oder der Böse. Diejenigen, bei denen man der Böse ist, beschweren sich in der Regel am lautesten. Wir haben da kaum eine Möglichkeit, uns zu wehren, weil wir dem Datenschutz verpflichtet sind. Letztendlich ist es unsere Pflicht, uns für die Schwächsten in unserer Gesellschaft einzusetzen. Wenn wir nichts tun und es kommt ein Kind zu Schaden, steht der Staatsanwalt vor unserem Tisch und prüft, ob wir alles getan haben, um diesen Schaden vom Kind abzuwenden. Diese Gratwanderung müssen wir als Jugendamt irgendwie schaffen.

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