Mundart in Rees Warum dieses Buch auf Reeser Platt schon rekordverdächtig ist

REES · Agnes Jay hat mit Hermann Venhofens Hilfe ein drittes Reeser-Platt-Buch herausgegeben. Es enthält Gedichte, Lieder und Karnevalsreden aus mehr als 100 Jahren. Und es so etwas wie ein Standardwerk.

 Bürgermeister Sebastian Hense (links), Kulturamtsleiterin Sigrid Mölleken (rechts) und der „Alltagsmensch“ Gertrud (Mitte) gehörten jetzt zu den ersten Lesern des neuen Platt-Buches von Agnes Jay und Hermann Venhofen.

Bürgermeister Sebastian Hense (links), Kulturamtsleiterin Sigrid Mölleken (rechts) und der „Alltagsmensch“ Gertrud (Mitte) gehörten jetzt zu den ersten Lesern des neuen Platt-Buches von Agnes Jay und Hermann Venhofen.

Foto: Michael Scholten

Im Mai 2017 veröffentlichte Agnes Jay ihr Wörterbuch „Reeser Platt“, das sich auch jenseits von Rees als kleiner Bestseller unter Mundartsprechern und Sprachforschern entpuppte. Im November 2020 folgte der fast 500 Seiten starke Ergänzungsband. Damit sollte die Arbeit, die sich die pensionierte Englisch- und Geschichtslehrerin sowie ihre Unterstützer Hermann Voß und Hermann Venhofen über viele Jahre gemacht hatten, eigentlich abgeschlossen sein.

Hermann Voß wünschte sich aber ein drittes Werk: kein Nachschlagewerk, sondern ein Buch, in dem die mehr oder weniger bekannten Lieder, Gedichte, Karnevalsreden und weitere Platt-Texte aus mehr als 100 Jahren zusammengefasst werden. „Ich weiß noch, wie enttäuscht Hermann Voß war, als ich ihm sagte, dass ich es bei den ersten beiden Büchern belassen und kein drittes Platt-Buch veröffentlichen möchte“, sagt Agnes Jay. Sechs Wochen später, Ende Oktober 2021, starb Hermann Voß im Alter von 93 Jahren. „Auf der Beerdigung habe ich dann den Beschluss gefasst, quasi als Vermächtnis, doch noch ein drittes Buch zu schreiben.“

Auch Hermann Venhofen sagte sofort seine Hilfe zu. Die war auch unerlässlich, da er jede Anspielung in den Platt-Texten auf geschichtliche oder gesellschaftliche Ereignisse und jede erwähnte Person sofort zuordnen konnte. Zwar kommt Agnes Jay ebenfalls aus Rees, sie wuchs als Tochter des Landwirts Eugen Lörcks und der Hebamme Else Lörcks auf. Doch da sie nach dem Abitur auf Haus Aspel die Heimat verließ und bis heute in Essen-Kettwig lebt, mag es einzelne Wissenslücken geben, die der Ur-Reeser Hermann Venhofen problemlos schließen konnte. Jetzt ist das 430 dicke Buch „Vertällekes än Verskes op Räässe Platt“ fertig.

Es beginnt mit einer Widmung für den verstorbenen Initiator Hermann Voß, enthält Texte, Verse und Lieder von mehr als 25 Verfassern, darunter Hermann Klemme, Wilhelm van der Ven, Dores Albrecht, Willy Buschmann, Hannes Heuser, Hubert Dahmen und Josef Schloßmacher. Hinzu kommen 164 Zeichnungen und meist historische Fotos aus dem Stadtarchiv.

Die Auswahl der Texte war schnell getroffen, erinnern sich Agnes Jay und Hermann Venhofen. Doch nicht nur die Leserlichkeit von Handschriften stellte die Autoren manchmal vor Herausforderungen, sondern vor allem die Schreibweise der Gedichte, Lieder und Karnevalsreden. „Das Platt ist keine geschriebene Sprache mit festgelegten Regeln“, sagt Agnes Jay. „In einigen Texten verwendet der Verfasser drei unterschiedliche Schreibweisen für ein und dasselbe Wort.“

Es war Hermann Venhofen, der Agnes Jays erstes und zweites Nachschlagewerk selbstbewusst zum „Duden“ des Reeser Platts erklärte. Daher folgen nun alle Texte im dritten Buch den Rechtschreibregeln, die in den ersten beiden Büchern von 2017 und 2020 aufgestellt wurden. Immerhin enthielten beide Nachschlagewerke zusammen fast 13.000 Einträge. Heimatdichter und Autoren, von denen besonders viele Texte Einzug ins Buch gehalten haben, werden jeweils mit Porträtfoto und einer kurzen Biografie vorgestellt. Danach werden ihre Verse in chronologischer Reihenfolge gelistet, sofern sich die Jahreszahl ermitteln ließ.

Als einziger zeitgenössischer Autor hat es Ludger Dahmen in das Buch geschafft. So stehen jetzt kritisch-humorvolle Platt-Betrachtungen der Corona-Krise gleichberechtigt mit 100 Jahre alten Liebesbekundungen zur Heimat eines Wilhelm van der Ven oder mit der Trauer über die kriegsbedingte Zerstörung der Rheinstadt eines Hubert Dahmen in dem Buch. Jeder Platt-Text wird mit hochdeutscher Übersetzung gedruckt. „Weil heute nur noch wenige Menschen das Reeser Platt beherrschen, hielt ich eine Übersetzung der Texte für unumgänglich“, erklärt Agnes Jay, „obwohl die Reime und der Rhythmus vieler Verse durch die Übersetzung leider oft verloren gehen.“

An der Buchvorstellung im kleinen Saal des Bürgerhauses nahmen jetzt auch Bürgermeister Sebastian Hense und Kulturamtsleiterin Sigrid Mölleken teil. In der Familie des 1978 geborenen Bürgermeisters wurde kein Reeser Platt gesprochen, weil die Eltern ursprünglich aus dem Ruhrgebiet kamen. „Aber weil ich in Rees aufgewachsen bin, habe ich diesen Dialekt oft und gern gehört und mag ihn bis heute.“

Sebastian Hense lobte vor allem die abermals ehrenamtliche Arbeit, die Agnes Jay und Hermann Venhofen in das neue Projekt investiert haben. Auch an dem Verkaufspreis von 19,90 Euro verdienen die Autoren nichts. „Im Gegenteil“, lacht Agnes Jay, die jedes verkaufte Buch indirekt aus ihrer eigenen Tasche mitfinanziert. „Mir reicht es, etwas gegeben zu haben, damit das Reeser Platt nicht sang- und klanglos untergeht. Das Geld und auch die Verkaufszahlen sind mir nicht so wichtig.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort