NRW-Umweltministerin im Interview „Sechs marinierte Hähnchenschenkel für 1,99 Euro - das kann nicht funktionieren“

Düsseldorf · Das NRW-Umweltministerium wirbt bei der Fleischindustrie dafür, Schlachthöfe mit Kameras zu überwachen, um Tierquälerei zu verhindern. Doch was bringt eine freiwillige Regelung? Umweltministerin Heinen-Esser verteidigt im Interview ihre Nutztierstrategie.

 RP-Redakteure Thomas Reisener und Helene Pawlitzki im Gespräch mit Ministerin Heinen-Esser für den Ländersache-Podcast.

RP-Redakteure Thomas Reisener und Helene Pawlitzki im Gespräch mit Ministerin Heinen-Esser für den Ländersache-Podcast.

Foto: Umweltministerium

Videoüberwachung in Schlachthöfen, eine Gesundheitsdatenbank für Tiere und Musterställe für artgerechte Schweinehaltung – das sind die Pläne der NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU). Vergangene Woche hat sie ihre Nutztierstrategie vorgestellt. Sie basiert an entscheidenden Stellen auf Freiwilligkeit der Industrie. Sie erwarte, dass in einem Jahr 60 Prozent der Schlachtbetriebe Videokameras installiert hätten, sagt Heinen-Esser im Gespräch mit unserer Redaktion, und verweist auf ein Bundesgesetz, das NRW und Niedersachsen im Bundesrat gefordert haben. Das Gespräch hören Sie auch in unserem NRW-Podcast „Ländersache“.

Frau Heinen-Esser, um die sieben Millionen Schweine werden in Nordrhein-Westfalen gehalten – und immer wieder kommen Geschichten und Bilder aus Viehhaltung und Schlachthöfen ans Licht, die einem die Lust aufs Kotelett vergehen lassen. Wie sieht es bei Ihnen aus – essen Sie noch Fleisch?

Ursula Heinen-Esser Ja, ich gebe es offen zu – ich esse sogar sehr gerne Fleisch. Aber nichtsdestotrotz: Die Situation in manchen Ställen ist so, dass man sich anschauen muss, ob unser Kontrollsystem gut aufgestellt ist. Dazu haben wir diese Woche unsere Ideen vorgestellt.

Was haben Sie vor?

Heinen-Esser Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten tausend neue Tierärzte einstellen, die in den Veterinär-Ämtern der Kreise unterwegs sind. Das ist finanziell nicht darstellbar. Also müssen wir andere Mechanismen finden. Wir entwickeln risiko- und anlassbezogene Kriterien. Dazu gibt es in Zukunft eine Tiergesundheitsdatenbank. Dort fließen alle Daten über die Schweine zusammen, vom Schlachthof bis zur Amtlichen Kontrolle, Eigenkontrollen, Transportkontrollen et cetera. Damit hat man sehr früh einen Indikator dafür, wie die Situation in einem Stall ist. Wenn in einem Stall fortwährend schlechte Befunde sind, kann man eingreifen.

So eine Datenbank nützt aber nur etwas, wenn Fachpersonal da ist, dass sich die Daten anschaut und aktiv wird. Sie haben gerade gesagt: Viel mehr Tierärzte wird es nicht geben.

Heinen-Esser Das Besondere an der Datenbank ist, dass wir bestimmte Algorithmen unterlegt haben, so dass die Datenbank von selbst Alarm schlägt, wenn bestimmte Überschreitungen auftauchen. Dieser Alarm geht an die Kreisveterinäre, so dass diese dann tätig werden können. Das ist meiner Ansicht nach ein guter Schritt Richtung Digitalisierung.

Eine weitere Kontrollmöglichkeit soll durch Videoüberwachungssysteme entstehen – und zwar freiwillig. Sie haben mit den Verbänden vereinbart, dass diese dafür werben, dass die Betriebe Kameras aufhängen. Noch softer ging es nicht, oder?

Heinen-Esser Ich bin schon heilfroh, dass wir so weit gekommen sind. Die Verbände werben sehr aktiv dafür, dass die Unternehmen diese Videokameras anbringen. Wir haben gemeinsam mit dem Land Niedersachsen im Bundesrat einen Antrag verabschiedet, der den Bund auffordert, die gesetzlichen Grundlagen dafür zu schaffen, dass es eine generelle Videoüberwachung gibt. Zur Überbrückung machen wir eine Vereinbarung mit den Verbänden der Fleischwirtschaft, um hier mehr Tempo reinzubringen. Wir haben 400 Schlachthöfe in Nordrhein-Westfalen, viele ganz klein. Nur die ganz großen haben schon Videoüberwachung an sensiblen Stellen…

Zwei von den ganz großen – von zwölf Betrieben insgesamt.

Heinen-Esser Das ist noch zu wenig. Da dürfen wir uns nichts vormachen. Deshalb hoffen wir, dass wir ein bisschen mehr Dampf machen können.

Ihre Prognose: Wie wird die Situation heute in einem Jahr aussehen?

Heinen-Esser Ich hoffe, dass wir es hinbekommen werden, dass 60 Prozent der Betriebe Kameras aufhängen. Wir werden auch noch mal aktiv dafür werben, wenn wir in den nächsten Monaten mit den Verbänden zusammensitzen, um für mehr Tierwohl in den Ställen und Schlachthöfen zu werben.

Das Problem ist doch aber auch: Wenn die Videoüberwachung einerseits freiwillig und andererseits nicht flächendeckend ist, besteht die große Gefahr, dass die Betriebe, die Tiere besonders schlecht behandeln, durchs Netz schlüpfen.

Heinen-Esser Das ist in der Tat ein Problem. Diese Betriebe werden wir durch andere Kontrollen stärker in den Fokus nehmen müssen. Auch hier soll die Tiergesundheitsdatenbank helfen. Die Tierärzte können dann sehr genau sehen, ob irgendwo etwas schiefläuft. Wenn wir alle Daten beieinander haben, können wir schneller zugreifen. Das soll eine klare Ansage sein, die nicht vernünftig mit Tieren umgehen. Wir haben sie jetzt im Visier.

Trotzdem: Offensichtlich werden Tiere häufig deshalb so schlecht behandelt, weil es billiger ist, als sie artgerecht zu halten. Wie wollen Sie mit Freiwilligkeit gegen die Macht des Geldes ankommen? Wieso machen Sie kein Gesetz, das Videoüberwachung verpflichtend macht?

Heinen-Esser Das Gesetz wird kommen – dazu haben die Bundesländer den Bund einstimmig aufgefordert. Das passiert selten in dieser Klarheit. Der Ball liegt jetzt bei Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, dass sie den entsprechenden Vorschlag macht. Bis dahin müssen wir trotzdem etwas unternehmen, deshalb gibt es die Vereinbarung mit der Fleischwirtschaft.

Die Frage ist, ob die Verbraucher bereit sind, beim Fleischkauf für mehr Tierschutz auch mehr Geld auf den Tisch zu legen. Was ist Ihre Einschätzung?

Heinen-Esser Ich persönlich bin da etwas zurückhaltend. Wir haben die ersten Verbraucherbefragungen zum privaten Tierwohl-Label. Der Handel hat das auf den Markt gebracht. Man kann sehen: Wie sind die Tiere gehalten worden? Die Verbraucher möchten, dass Tiere besser gehalten werden – aber sie wollen oder können nicht mehr für Fleisch bezahlen. Wenn das so ist, müssen wir anders Mittel zur Verfügung stellen, um den Landwirten zu ermöglichen, tierwohlgerechter zu arbeiten. Hier kommt klar eine Aufgabe auf den Staat zu, zumindest den Umbau der Ställe zu unterstützen.

Das heißt, Sie wollen Stallbauten subventionieren?

Heinen-Esser Wir werden mit Musterställen arbeiten. Wir haben der Landwirtschaftskammer NRW zwei Millionen Euro gegeben, damit sie einen vorhandenen Stall umbaut und damit zeigt, wie man Auslauf- und Beschäftigungsmöglichkeiten für die Tiere installiert – auch mit den komplizierten Genehmigungen, die dahinter stehen. Und wir wollen ein Investitionsförderprogramm für die Landwirte auf den Weg bringen, damit sie sich umstellen können. Wir kennen das aus anderen Bereichen, beispielsweise der Ferkelkastration: Wenn wir politische Wünsche haben, können wir auch dabei helfen, sie umzusetzen.

Wieso kostet es zwei Millionen Euro, einen Musterstall zu bauen? Wie vernünftige Tierhaltung aussieht, sollte doch inzwischen bekannt sein.

Heinen-Esser Das Problem ist die Genehmigungslage. In der Tat ist es nicht so kompliziert, so einen Stall zu bauen – aber es ist sehr kompliziert, eine Genehmigung zu bekommen für einen Stall, bei dem die Tiere außen herum Auslauf haben. Das hat mit Geruchsbelästigung zu tun und mit den Emissionen, also den Einwirkungen auf Klimaschutz und so weiter. Die Regierungsbezirke tun sich schwer mit der Genehmigung solcher Ställe, denn die Luftwerte verändern sich dadurch zum Negativen. Deshalb bauen wir diese Ställe, um den Behörden zu zeigen, wie so ein Musterstall aussieht und wie man mit den veränderten Werten umgehen kann. So ist das eben in der Umweltpolitik – es gibt immer Konflikte mit anderen Politikfeldern.

Wie ist der Fahrplan?

Heinen-Esser Erst mal besprechen wir die Nutztierhaltungsstrategie mit den Verbänden. Das passiert im November. Anfang 2020 wollen wir die Strategie fertig vorliegen haben. Wir haben schon mehrere Maßnahmen auf den Weg gebracht, beispielsweise haben wir Tiertransporte in bestimmte Länder der Russischen Föderation, weil auf den Strecken nicht gewährleistet ist, dass die Tiere ordentlich versorgt werden. Was wir für die Schweine festgelegt haben, wollen wir auch auf andere Tiere ausweiten. Aber bei den Schweinen war der Druck zuletzt am größten, auch bei den Landwirten. Die müssen wir mitnehmen. Wenn sie am Ende vor der Masse der Aufgaben zurückschrecken und den Hof am Ende deshalb nicht an die nächste Generation übergeben, dann hilft uns das nicht weiter. Wir wollen die mittelständische Landwirtschaft erhalten.

Was kostet ein billig produziertes Schweine-Nackensteak im Vergleich zu einem tierwohlgerecht produzierten Steak?

Heinen-Esser Dazwischen werden ein paar Euro Unterschied liegen. Abends, wenn ich nach Hause komme, lade ich mir die Zeitungen vom nächsten Tag herunter und schaue mir auch die Anzeigen an. Zu den Preisen, zu denen manche Discounter Fleisch anbieten, kann es gar nicht produziert werden. Meine Bitte an die Verbraucher: Haben Sie ein Auge darauf, zu welchen Preisen sie einkaufen. Sechs marinierte Hähnchenschenkel für 1,99 Euro – das kann nicht funktionieren.

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