Star-Autor Joseph Mitchell Der Reporter, der 30 Jahre lang keinen Text ablieferte

New York City · Joseph Mitchell gilt als einer der besten Journalisten aller Zeiten – und als der über den größten Zeitraum unproduktivste. Ein Schelmenstück? Leider nicht.

 Das Cover der Mitchell-Biografie "Man in Profile" von Thomas Kunkel (2015).

Das Cover der Mitchell-Biografie "Man in Profile" von Thomas Kunkel (2015).

Foto: Random House

Gut möglich, dass es ein Sakrileg ist, Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, den großen Joseph Mitchell in diesem verhältnismäßig ungelenken Text nahezubringen, und dann auch noch unter dieser Überschrift. 

Doch Erstens heiligt der Zweck manchmal die Mittel und verschafft Mitchell auf diesem Weg zu seinem 25. Todestag womöglich neue Leser, die dann fast unter Garantie Fans werden. Zweitens gehört sie wohl oder übel zu seinem Leben, die atemberaubend lange Phase, in der er trotz bezahlter Festanstellung als Reporter keinen einzigen Text fertigstellte. Und Drittens hatte er selbst ein großes Herz für Außenseiter und Exzentriker – und die Menschen hinter solcherlei Etiketten. 

Joseph Quincy Mitchell trug das Etikett „Chefreporter“ beim bis heute legendären Magazin „The New Yorker“, dessen Schreiber damals wie heute im Grenzgebiet zwischen Journalismus und Literatur lustwandeln. Posthum wird er von vielen sogar als bester - weil: geduldigster, seinen Protagonisten zugewandtester, am schärfsten beobachtender, am ausdrucksstärksten formulierender - Reporter aller Zeiten gehandelt. Doch eines Tages hörte er auf zu schreiben, oder jedenfalls: fertig zu schreiben. Nach 35 Berufsjahren war er mit keinem Text mehr so zufrieden, dass er ihn abgab.

In den ersten Monaten und auch Jahren dachten Kollegen wie Vorgesetzte, er nehme bloß Anlauf für die nächste Knaller-Story, für die sich diese Wartezeit dann lohnen würde. Doch aus Jahren wurden Jahrzehnte, plötzlich war der ewige Junge alt. Mit 87 Jahren holte ihn der Krebs. Man schrieb den 24. Mai 1996 – und seinen letzten Text hatte Mitchell im September 1964 veröffentlicht.

Das war damals exakt so außergewöhnlich, wie es heute klingt. Obwohl die Leute damals natürlich tendenziell mehr Zeit hatten als heute, selbst im hektischen New York City. Und obwohl Geduld Trumpf war beim „New Yorker“, den Mitchell selbst mit zur Marke gemacht hatte, und das lange erbärmlich unterbezahlt, weshalb er aber nun unantastbar war.

Aber dreißig Jahre sind dreißig Jahre sind dreißig Jahre.

Dabei war es nicht so, dass Mitchell in dieser Zeit um die Welt gereist oder durch sein geliebtes New York City spaziert wäre und seine Chefs mit immer neuen Ausreden hingehalten hätte, während er das süße Nichtstun genoss. Mit geradezu preußischer Disziplin fuhr er täglich ins Büro. Sein Kollege Roger Angell erinnert sich: „Jeden Morgen stieg er aus dem Aufzug, wirkte beschäftigt, nickte denen zu, die ihm auf dem Flur entgegenkamen, und schloss sich in seinem Büro ein.“ Nach anderthalbstündiger Mittagspause sei er stets pünktlich in sein Büro zurückgekehrt. „Viele Tippgeräusche hörte man von drinnen nicht, und wer ihn besuchte, wusste zu berichten, dass sein Schreibtisch, von Papier und Bleistiften abgesehen, völlig leer sei. Am Ende des Tages ging er heim. Im Aufzug nach unten hörte ich ihn manchmal leise seufzen – aber er hat sich nie beschwert und nie erklärt.“

Die Erklärung für die wohl längste Schreibblockade aller Zeiten lieferte später Mitchells Biograf Thomas Kunkel in „Man in Profile“ (leider nie ins Deutsche übersetzt). Kurz gesagt war es eine unglückselige Verkettung biografischer Ereignisse, wobei die meisten davon im Alter viele quälen.

Im Streit mit seinem Vater hatte Mitchell nach dem Abbruch seines Journalistik-Studiums 1929 seine Heimat North Carolina verlassen, anstatt als ältestes von sechs Kindern die elterliche Tabak- und Baumwoll-Farm zu übernehmen. Später einmal erzählte er nur halb im Scherz, er sei neidisch auf einen Alligator namens Bill gewesen, den wiederzusehen sich sein Vater sichtbar freute.

Seine Entwurzelung spürte Mitchell doppelt, als die hereinbrechende Moderne die charmantesten Ecken von New York City - von seiner aus der Zeit gefallenen Lieblings-Bar bis zu den verwitternden Vorstadt-Friedhöfen - auffraß. Dann war da noch eine starke depressive Neigung, die ihn im Alter quälte, insbesondere nach Verlusterfahrungen wie dem Tod seiner Eltern, vieler Freunde und auch seiner Frau Therese, die 1980 nach fast fünfzigjähriger Ehe starb.

Hinzu kam eine fatale Mischung aus angeborenem Perfektionismus, ins Unermessliche gewachsener Erwartungshaltung von außen – und einer persönlichen Fehleinschätzung. Den Herumtreiber Joe Gould hatte Mitchell 1942 als angeblichen Autor einer gewaltigen, Millionen Wörter umfassenden „Geschichte unserer Zeit“ in einem meisterlichen Porträt unsterblich gemacht als Genie aus der Gosse.

Im Laufe der Zeit aber stellte sich heraus, dass das ambitionierte Werk immer nur im Kopf des offenbar hochbegabten wie auch wohl geistig Verwirrten Überredungskünstlers existiert hatte. Mitte September 1964 beichtete Mitchell das seinen Lesern im fulminanten Essay „Joe Gould’s Secret“. An allen weiteren Texten - einem Buch über New York City, seiner Autobiografie, aber auch weniger ambitionierten Vorhaben - scheiterte er. Nützlich machte er sich in diesem letzten Drittel seines Lebens durchaus, als Vater seiner beiden Töchter wie auch in diversen Ehrenämtern etwa für die Denkmalschutz-Kommission.

Zweierlei bleibt von ihm: seine fantastischen Texte bis dahin - und die Mahnung, dass Etiketten diesem Menschen ebensowenig gerecht werden wie allen anderen.

Ruhe in Frieden, Joseph Mitchell, Mensch statt Schreibmaschine.

Der Diaphanes Verlag hat vier Bücher von Joseph Mitchell ins Deutsche übersetzt, darunter den Erinnerungs-Band „Street Life“ (104 Seiten, 15 Euro).

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