DFB-Analyse Wir und die Mannschaft - zwischen AfD und Multikulti

Kasan · Bei einer Weltmeisterschaft wird der Fußball zur nationalen Angelegenheit. Die Nationalmannschaft wird zum Spiegel der widersprüchlichen deutschen Gesellschaft. Für die Spieler ist das eine schwierige Situation.

Werden nach der Erdogan-Affäre von machen Fans weiterhin kritisch gesehen: Mesut Özil (Mitte) und Ilkay Gündogan (rechts).

Werden nach der Erdogan-Affäre von machen Fans weiterhin kritisch gesehen: Mesut Özil (Mitte) und Ilkay Gündogan (rechts).

Foto: dpa/Ina Fassbender

Allein dieses Wort: „National“-Mannschaft. Das klingt so groß, nach einem nationalen Gut. Es gibt viele Nationalmannschaften. Aber nur eine wird als eine derart nationale Angelegenheit behandelt – die Fußball-Nationalmannschaft, die gerade in Russland versucht, ihren Weltmeistertitel von 2014 zu verteidigen. Die Werbestrategen im Deutschen Fußball-Bund haben die Bedeutung des Teams unterstrichen, indem sie ihm den Namen „die Mannschaft“ verpasst haben – ganz so, als wenn es daneben keine andere mehr gäbe.

Und so nimmt das Land diese Mannschaft wahr – vor allem bei einer Weltmeisterschaft. Die einen werfen alle ihre Wünsche auf die Nationalelf. Sie soll Erfolge erspielen, erkämpfen, die dann auf alle abstrahlen, die Erfolge aller sind, nationale Erfolge. Andere wollen, dass die Spieler als Botschafter ihres Landes unterwegs sind, Anstand wahren und sich am besten noch gegen das politisch Falsche offen positionieren. Es macht die Aufgabe nicht leichter, dass verschiedene politische Lager ganz unterschiedliche Positionen verlangen, das politisch Falsche vollkommen gegensätzlich definieren.

Jedes Lager sieht diese Mannschaft aus der eigenen Blickrichtung. Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth von den Grünen findet zum Beispiel: „Die Nationalmannschaft ist ein Spiegelbild unserer multikulturellen Gesellschaft.“ DFB-Präsident Reinhard Grindel, in einem früheren politischen Leben für die CDU stellvertretender Vorsitzender des Sportausschusses im Deutschen Bundestag, ist sogar sicher, „dass die Nationalmannschaft ein gelungenes Beispiel für Integration ist“. Er zeigt auf Mesut Özil und Ilkay Gündogan, deren Vorfahren aus der Türkei stammen, auf Jérôme Boateng, der ghanaische Wurzeln hat, und Sami Khedira, der neben der deutschen auch die tunesische Staatsbürgerschaft besitzt.

Die AfD bestreitet der Nationalmannschaft, ein Spiegel der Gesellschaft zu sein. Das Lebensgefühl der meisten Deutschen sei „nicht multikulti, die Nationalmannschaft ist schon lange nicht mehr deutsch“, die Zugehörigkeit zur Nationalmannschaft sei „keine Frage der Identität, sondern des Geldes“, erklärt der Vorsitzende Alexander Gauland. Seine Partei bezweifelt lautstark die nationale Identität gerade von Özil und Gündogan, die mit einem gemeinsamen Foto Teil der Wahlkampfstrategie des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wurden. Populistisch fordert sie den Rauswurf der beiden Spieler aus dem Aufgebot der Nationalmannschaft. Sie weiß dabei viele hinter sich, die mit der AfD sonst nichts am Hut haben.

Die Gemengelage der Gefühle, denn darum geht‘s, wird aber noch deutlich komplizierter. Inzwischen gehen viele Menschen in Deutschland auf vorsichtige Distanz zur Nationalmannschaft, weil ihnen wieder alles „Nationale“ verdächtig erscheint. Gruppierungen vom rechten Rand und hier vor allem die AfD haben alles Nationale, unter anderem die schwarz-rot-goldene Fahne, längst für sich instrumentalisiert und ihm damit einen negativen Beigeschmack gegeben.

Der entspannte fröhliche Nationalstolz, der bei der WM 2006 in Deutschland auf den Fanmeilen, ja im täglichen Leben sichtbar wurde und das ganze Land mit einem Spaß flutete, der auch die Nachbarn in Europa angenehm verstörte, ist dabei, sich zu verflüchtigen. Das Sommermärchen droht wieder nur ein Märchen zu werden.

Trotzdem bleibt die Nationalmannschaft als Idee einer Mannschaft aller eine Projektionsfläche. Und da wird sie ein Fall für die Psychologie. Denn die Wissenschaftler glauben, dass nicht nur Wünsche auf andere projiziert werden. Der klarste und vermeintlich einfachste Wunsch ist zugleich am schwierigsten zu erfüllen: Die Nationalmannschaft soll gefälligst für uns den Titel gewinnen. Tut sie es nicht, tritt sozusagen das zweite Gesetz der Projektion in Kraft: Wir sind der Mannschaft böse und machen sie dafür verantwortlich, dass wir nicht der Weltmeister sind.

Der Weltmeistertitel ist der Titel einer „Fußball-Nation“

Als Weltmeister haben wir uns gut gefühlt und aus dem Eindruck gelebt, selbst mitverantwortlich gewesen zu sein – durch Unterstützung, durch bloßes Wollen. Der Weltmeistertitel ist so der Titel einer „Fußball-Nation“. Sie hat ihn (mit-)gewonnen. Doch nur die Mannschaft kann ihn verlieren. Der Misserfolg wird mit Liebesentzug und Schuldzuweisung quittiert.

Noch irrwitziger: Kommen sportlicher Misserfolg und allgemeine Unzufriedenheit (zum Beispiel mit der gesamten politisch-gesellschaftlichen Situation) zusammen, erfüllt das Nationalteam die Rolle des nationalen Sündenbocks. Zurzeit erlebt Deutschland vielleicht so eine Phase.

Sie ist der Gegensatz zur Situation des Jahres 1954. Die Nationalmannschaft gewann in Bern zum ersten Mal den Titel des Fußballweltmeisters, und die soziologische Legende will, dass sie dadurch ihr Land neun Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem ganz neuen Selbstwertgefühl versorgte. Von nationalen Gefühlen sprach damals aus nachvollziehbaren Gründen lieber niemand. Aber die elf deutschen Fußballer wurden die „Helden von Bern“. Sie konnten nichts dafür. Einige wurden mit diesem völlig überhöhten Ruhm nicht fertig und erlebten einen sozialen Absturz.

Gegen einen gesellschaftlichen Niedergang sind die heutigen Mitwirkenden in einem internationalen Schaugeschäft finanziell bestens abgesichert. Gegen die Rolle als Sündenböcke sind sie es allerdings nicht. Das erklärt die extrem dünnhäutige Reaktion „unserer“ Nationalspieler auf die Kritik nach dem verlorenen ersten WM-Gruppenspiel. Nach dem Sieg im zweiten Spiel hat Fußball-Deutschland sie langsam wieder lieb. Vorläufig.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort