Stefan Kuntz über Nachwuchsausbildung „Andere Nationen überholen uns“

Düsseldorf · Stefan Kuntz sorgt sich um die führende Rolle des deutschen Fußballs im Nachwuchsbereich und sieht andere Nationen auf dem Vormarsch. Der U21-Nationaltrainer spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Nachwuchsarbeit in Deutschland und wichtige Stellschrauben in der Talentförderung.

 Stefan Kuntz wurde 1996 als Spieler Europameister, 2017 gewann er den Titel als Trainer der deutschen U21.

Stefan Kuntz wurde 1996 als Spieler Europameister, 2017 gewann er den Titel als Trainer der deutschen U21.

Foto: dpa/dpa, spf jai

Herr Kuntz, Sie haben zuletzt bei einem WM-Talk in Baiersbronn gesagt, Deutschland habe ein Nachwuchsproblem. Früher gab es pro Jahrgang sechs bis acht Riesentalente, jetzt oft nur noch eins. Woran liegt das?

Stefan Kuntz Die Stärke bei der WM 2014 und aktuell in der A-Mannschaft ist das Ergebnis von guten Entscheidungen zur Jahrtausendwende mit den Leistungszentren, Talentförderprogrammen und guter Arbeit auf Vereins- und Verbandsebene seitdem. Wir haben ein sehr gutes Ausbildungssystem geschaffen, das nun aber in die Jahre gekommen ist und in dem Schwachstellen entstanden sind. Das System ist sehr komplex geworden, und es sind viele verschiedene Institutionen beteiligt. Es gibt nicht die eine Stellschraube, die es zu drehen gilt, damit sich etwas verändert, es sind mehrere.

Welche Defizite stellen Sie bei der U21 konkret fest, auf dem Trainingsplatz und in der Kabine?

Kuntz Die Kommunikation ist keine Selbstverständlichkeit. Und an Persönlichkeit fehlt es noch ein wenig. Ungewohnt erscheint manchmal der Umgang mit Konflikten und vor allem das Durchsetzen in schwierigen Situationen. Leider fällt auf dem Trainingsplatz auf, dass mittlerweile auch Basics des Fußballs nicht mehr automatisch beherrscht werden.

Welche denn?

Kuntz Schwächen im defensiven und offensiven Eins-gegen-eins zu erkennen, ebenso bei der Passgenauigkeit über das gesamte Spiel oder Training und im Kopfballspiel.

U21-EM: Stefan Kuntz wieder Europameister
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Kuntz wieder Europameister

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England holt viele U-Titel, Frankreich, Spanien und Holland sind hochgelobt für ihre Nachwuchsarbeit. Was machen sie besser?

Kuntz Bis zuletzt sind wir für unsere Nachwuchsarbeit auch gelobt worden und werden das noch im Ausland. Wir haben uns in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt. Die Ernte haben wir 2014 eingefahren. Wir sind Weltmeister, Confed-Cup-Sieger und U21-Europameister. Derzeit überholen uns allerdings andere Nationen wieder. Sie sind uns gegenüber in vielen Bereichen schneller, dynamischer und genauer – haben ihr System weiterentwickelt, angepasst und setzen diese Veränderungen auch um.

Gladbachs junger Franzose, Michael Cuisance, erklärt die zuletzt erfolgreiche Jugendarbeit in Frankreich so, dass es viele, sehr harte Trainer gibt. Ist das Nachwuchsproblem auch ein Trainerproblem?

Kuntz Wir haben ein Systemproblem, kein Problem einzelner Bereiche. Vereine, Verband, Trainer leisten alle in ihrem Bereich an sich gute Arbeit, in dem, was das System von ihnen verlangt. Aber das gesamte System führt im Moment dazu, dass uns einige Nationen überholen. Trotzdem ist es gut, wenn wir die Trainerausbildung überdenken und den Anforderungen der Zeit anpassen wollen und werden.

Gibt es zu viele gleiche Typen? Jürgen Kohler sagt, es gibt zu wenige „echte“ Verteidiger und Mittelstürmer. Haben die Akademien und der DFB Ausbildungstrends versäumt?

Kuntz Vielleicht sind wir zu viel auf Trends eingegangen, wodurch die Kreativität, einzelne Spielpositionen, aber auch das traditionelle Zweikampfverhalten, der Kern des Spiels, vernachlässigt wurden.

Die riesigen Akademien in München und Leipzig „horten“ Talente, die dann nicht alle durchkommen. Würde eine gesunde Verteilung wieder mehr Talente hochbringen?

Kuntz Das ist schwer zu beantworten. Hier kann man keine zuverlässige, seriöse Antwort geben. Grundsätzlich sollte die individuelle Förderung – und vor allem die Ausbildung der Spieler – die gesamte Bandbreite des Fußballs beinhalten und nicht zu früh eine Spezialisierung vorgenommen werden. Die Nationalteams setzen sich in der Jugend selten aus Blöcken zusammen, sondern sind auf viele Teams verteilt, was wieder gegen diese These sprechen würde. Fakt ist, dass zu früh und zu viele Wechsel stattfinden. Das Wichtigste im Alter von 19 bis 21 Jahren ist Spielpraxis auf möglichst hohem Niveau. Das ist durch keinen Euro zu ersetzen.

Es gibt eine Kommission im DFB, die das Problem aufarbeitet. Was muss sich ändern?

Kuntz Es ist die stetige Aufgabe eines Dachverbandes, sich mit diesen Themen zu beschäftigen. Das ist komplex. Wenn man an einer Schraube dreht, ändert sich im System nicht viel. Im System Leistungssport, beziehungsweise Nachwuchsfußball, sind in Deutschland sehr viele Institutionen beteiligt. Es gibt immer mehr Spezialisten, es gibt viel Geld zu verdienen, also gibt es auch unheimlich viele unterschiedliche Interessen. Auch allgemeine gesellschaftliche Trends haben enormen Einfluß auf die derzeitige Nachwuchsarbeit, weil Einstellung und Mentalität der Jugendlichen neue Formen annehmen. Deshalb können wir beim DFB die Gedanken und Vorschläge anstoßen, aber es müssen alle Betroffenen im Boot sitzen.

Geht es deutschen Talenten im Training zu gut? Fehlt es darum auch an der nötigen Mentalität?

Kuntz Dieses Gefühl kann man nicht von der Hand weisen. Die Aussage so stehen zu lassen, wäre allerdings zu einfach. Es sind viele Aspekte, die hier zusammenspielen. Der Aufwand, den die Spieler im Leistungszentrum betreiben, ist enorm. Um ihnen dieses Leben etwas angenehmer zu machen, werden viele Probleme aus dem Weg geräumt. Das führt letztlich zu einem Mangel an Selbstständigkeit und Mitdenken, für den die Jungs selbst gar nichts können. Er wirkt sich aber auch auf die Spielleistung aus. Dazu kommen noch viele weitere Aspekte.

DFB-Psychologe Hans-Dieter Hermann entwirft auch Ansätze, um junge Spieler zu unterstützen. Was steht dabei im Fokus?

Kuntz Unterschiedliche Altersgruppen haben unterschiedliche Probleme. Oft sind die Spieler in Nachwuchsleistungszentren und eventuell durch eigene Zusatztrainer schon versorgt. Trotzdem sieht der DFB hier eine Verantwortung und wird seine neutrale Position nutzen. Er wird im Zuge der DFB-Akademie auch in diesem Bereich qualitativ hochwertige Lösungen anbieten. In Zusammenarbeit mit Hans-Dieter Hermann werden wir eine optimale Betreuung aufbauen.

(kk)
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