Spannung über Überraschungen Sechs Gründe, die Hoffnung für den Fußball machen

Düsseldorf · Der Fußball ist im Grunde schlecht, und alles wird noch immer schlimmer - soviel scheint gewiss. Wer deshalb nicht mehr zuschaut, verpasst aber gerade die beste Saison seit langem und einen Funken Hoffnung, dass alles vielleicht ein bisschen besser wird.

Bayern-Trainer Julian Nagelsmann.

Bayern-Trainer Julian Nagelsmann.

Foto: dpa/Federico Gambarini

Wer den Fußball 2023 noch als letztes nicht restlos verglimmtes gesellschaftliches Lagerfeuer verkaufen möchte, könnte sich gleich am Handel mit Wirecard-Aktien versuchen. In diesem Jahrtausend haben Vereine, Ligen, DFB, Uefa und Fifa rote Linien überquert und moralische Limbostangen unterlaufen, als wäre es ein Wettbewerb. Mit dem Ergebnis, dass sich kapitalverbrecherische Regimes unverhohlen die größten Klubs der Welt untereinander aufteilen können, ohne dass sich noch spürbarer Widerstand wahrnehmen ließe. Allein auf eines scheint Verlass: alles wird garantiert immer noch ein bisschen schlimmer. Die schlechte Nachricht: das stimmt. Darüber kann man glatt einige erfreuliche Entwicklungen übersehen, die daran glauben lassen, dass für den Fußball vielleicht noch Hoffnung besteht.

Der Meisterkampf

Herzlichen Glückwunsch zur elften Meisterschaft in Serie, FC Bayern München! Allein die Niederschrift, dass es so etwas wie Spannung im Titelrennen geben könnte, entfesselt vermutlich einen verhängnisvollen Fluch, der sich Dortmund, Leipzig und Union Berlin habhaft und die Bayern schon im April zum Meister macht. Noch sieht es beim Blick auf die Tabelle aber ganz so aus, als wäre Dortmund nach 22 Spieltagen punktgleich mit den Bayern, als hätten Union Berlin und RB Leipzig nur zwei und drei Zähler Rückstand. Dass der FCB großzügig davon abgesehen hat, einen Ersatz für den wichtigsten Spieler der Liga zu verpflichten und Robert Lewandowski in dieser Staffel von Eric Maxim Choupo-Moting gespielt wird, war vielleicht eine der weitsichtigsten Entscheidungen für neue Spannung. Nachdem lange nur die Frage war, ob an der Spitze schottische, französische oder gar marsianische Verhältnisse herrschen und an der Säbener Straße eher die Krokusse blühen oder die nächste Meisterschaft eingetuppert wird, ist der Ausgang diesmal regelrecht offen. Stand jetzt. Wie es dazu kommen konnte, ist ja im Grunde fast einerlei. Die Bayern stolpern jedenfalls in schöner Regelmäßigkeit und haben stolze neun ihrer 22 Saisonspiele nicht gewonnen. Gut, wenn die Silberrücken aus Untergiesing mal richtig ernst machen, ist das hier vermutlich alles hinfällig. Aber halten wir fest: Im März 2023 ist ein anderer Deutscher Meister als der FC Bayern München zumindest denkbar.

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Foto: AP/Martin Meissner

Union Berlin

Dass vor der Bundesliga die härteste Tür Deutschlands wacht, galt lange als Gesetz. Exoten wie Darmstadt, Braunschweig, Greuther Fürth und Paderborn durften sich wie beim Kirmesboxen der Reihe nach aufstellen. Nach freundlicher Anerkennung dafür, dass sie sich immerhin getraut haben, gab’s dann aber tüchtig Dresche, bis die Aufsteiger sich schließlich gründlich vermöbelt in der zweiten Liga wieder zusammenflicken durften. Trotz aller Warnungen wollte es dann auch Union Berlin wissen und rüttelte als mutmaßlich äußerster Außenseiter der Bundesliga-Geschichte kräftig am Ohrfeigenbaum. In blindem Vertrauen auf die Naturgesetze hätte man genauso einen Stein ins Wasser werfen können - alle wussten, was geschehen würde. Bloß machte es bis heute noch nicht „platsch“. Union kann nicht die Klasse halten? Konnten sie doch. Union wird niemals europäisch spielen? Konnten sie doch. Die Doppelbelastung halten sie nicht aus? Hielten sie doch. Union spielt aber nicht dauerhaft oben mit? Nun ja. In Köpenick ereignet sich die vielleicht unwahrscheinlichste Geschichte, seit es die Bundesliga gibt. Die „Eisernen“ beweisen, dass zementierte Machtstrukturen und längst verteilte Pfründe übermächtiger Gegner egal sind, wenn man sie nur konsequent ignoriert.

Die Traditionsvereine

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Foto: dpa/Daniel Löb

In den vergangenen Jahrzehnten schien für Traditionsvereine ein Karriereweg vorgezeichnet wie für Gewinner von Castingshows. Zahlreich und dramatisch waren die Abstiege der Kaiserslauterns, Hamburgs, Aachens und Duisburgs. Unwiderstehlich zerrte die Gravitation vor allem an den Schwergewichten. Als es dann vor einem Jahr sogar Schalke erwischte, schien es nicht mehr aufzuhalten und nur eine Frage der Zeit, bis irgendwann Heidenheim etwa den Platz des 1. FC Köln einnehmen würde und sich die Ödnis so Stück um Stück der Bundesliga erobert. Nun hat sich daran einstweilen nichts Grundlegendes geändert. Knapp die Hälfte aller Bundesligaklubs bekommt als Einzelspiel auf Sky kaum eine messbare Quote zusammen, solange der Gegner nicht die Zuschauer mit zur Party bringt. Und doch wachsen zarte Pflänzchen, die Mut machen: wo eine Abfahrt, da meistens auch ein Lift. Der FC Schalke ist nicht dem Beispiel einiger Vorgänger gefolgt und hat aus dem Schnupperkurs 2. Bundesliga vorerst kein Abo gemacht. Der MSV Duisburg, der seit Jahren in besonders gewissenhafter Selbstabschaffung begriffene Fußballstandort Aachen oder Rot-Weiss Essen dienen als abschreckende Beispiele für die verheerenden Langzeitfolgen der Einstiegsdroge Bundesligaabstieg. Dass deren Plätze im Diesseits des Profifußballs nicht auf ewig verloren sind, deuteten einige der früheren Granden zuletzt aber wenigstens wieder an. Der VfL Bochum kam gegen viele Wahrscheinlichkeiten zurück in die Bundesliga und hält sich dort bislang allen Voraussagen zum Trotz. Der 1. FC Kaiserslautern spielt eine starke Rolle in der 2. Bundesliga, Rot-Weiss Essen gelang nach mehr als einer Dekade zumindest die Rückkehr in die 3. Liga und dort absehbar der Klassenerhalt. Der Hamburger SV arbeitet sehr aussichtsreich an einer Rückkehr in die erste Liga. Der Weg in die Bedeutungslosigkeit ist offensichtlich auch mit einer Gegenfahrbahn ausgestattet.

TSG Hoffenheim

Vorweg: Schadenfreude ist unschick und die Geschichte der TSG Hoffenheim ein nach wie vor verblüffendes Experiment. Dietmar Hopp hat eindrücklich vorgeführt, dass es möglich ist, den örtlichen Kreisligaverein mit einigen guten Ideen und noch mehr Geld in die Bundesliga zu führen und dort sogar zu etablieren. Das Herz aller Bundesliga-Manager-Spieler jauchzt. Dass er nun die ziemlich willkürliche 50+1-Ausnahmeregel, die bei den meisten anderen Klubs garantiert, dass die Mehrheit in Händen des Vereins bleibt, zurückgeben will, soll nicht als Hinweis auf einen geordneten Rückzug verstanden werden. Es ist aber einerlei, welche Lesart man an diesen Schritt anlegt: Hinweise auf eine Ausweitung seines Engagements lassen sich daraus nicht erkennen. Hopp macht Platz - nur für wen? Kein anderer Geldgeber dürfte Interesse daran haben, diesen unwirtlichen Standort mit großer Anstrengung weiter auf Bundesliganiveau zu subventionieren. Die Geschichte des Hoffenheimer Aufstiegs ist auserzählt. Internationale Auftritte oder nationale Titel will sich Hopp allem Anschein nach nicht erkaufen und hat damit längst alles erreicht. Die TSG 1899 Hoffenheim wird also absehbar wieder von der Bundesligabühne verschwinden. Das muss man nicht mit Häme kommentieren, aber auch keinesfalls bedauern. Für die Liga wäre dieser Abschied ein Gewinn.

Abstiegskampf

Das ist inzwischen ein vertrauter Befund: Solange die Spitze zur Steigerung des Unterhaltungswerts nichts beizutragen hat, reizt der Existenzkampf am Abgrund umso mehr. Dass sich die Attraktion hier weniger aus dem schönen Spiel als aus der Dramatik speist, ändert sich auch in dieser Saison nicht. Gleichwohl packt einen der Abstiegskampf schon viele Spieltage vor Saisonschluss diesmal noch etwas anders. Mit Hoffenheim ist fast schon traditionell ein üblicher Unverdächtiger mittendrin, an dessen Problemen sich der Rest der Liga schadenfreudig abarbeitet. Mit Hertha und Schalke kommen zwei Klubs hinzu, denen gegenüber das Publikum so ziemlich alles entwickeln kann - nur keine Gleichgültigkeit. Bochum als wackerer Außenseiter, der nichts zu verlieren hat, der VfB Stuttgart, der unablässig neue Wege zum Misserfolg ausfindig macht und beste Voraussetzungen im Akkord verhühnert. Nicht nur die Protagonisten machen diesen Abstiegskampf so attraktiv. Wer eine Ahnung haben möchte, wie diese Staffel endet, wird von der Tabelle nichts erfahren. So spannend war es selten.

Die 2. Bundesliga

Dass Sport1 in einem jahrelangen Liveexperiment versucht hat, das TV-Publikum so lange anzuschreien, bis auch die Zuschauer, die eigentlich nur beim Sportquiz sechs deutsche Städte mit Q erraten wollten, sich sicher waren, dass die 2. Fußball-Bundesliga sowas wie ein wöchentlicher Super Bowl wäre, ist inzwischen so bekannt, dass auch die Witze über die dort besungene beste zweite Liga aller Zeiten schon ihre Karriere beendet haben. Mit einiger Gewissheit lässt sich inzwischen zudem festhalten, dass sie damals unrecht hatten. So attraktiv wie heute erstrahlte das deutsche Unterhaus selten. Nachdem der gemeinsame Betriebsausflug von Werder Bremen und Schalke 04 in der vergangenen Saison noch ein unverhofftes Schlaglicht auf die Liga geworfen hat, lässt sich vor dem letzten Saisondrittel der Folgesaison bereits feststellen, dass sie durch den Abgang der beiden Publikumsgaranten wenig von ihrer Attraktivität eingebüßt hat. Klubs wie Darmstadt oder Paderborn, die dauerhaft in zweiter Reihe parken, haben eine mutige Spielphilosophie so tief verinnerlicht, dass die Spiele auch sehenswert für Menschen sind, die emotional keine Aktien an diesen Klubs halten. Dass in der 2. Bundesliga nur grob geackert würde, während eine Etage höher ausschließlich Edelkicker feine Spielkunst zelebrieren, ist längst überholt. Das Unterhaus hat sich zu einem Sammelbecken für inzwischen wieder zunehmend große Namen gemausert, in dem es tatsächlich aufregenden Fußball zu sehen gibt. Gerade in Zeiten, in denen die Spitzenplätze der Bundesliga per Erbrecht vergeben zu sein scheinen, wird die eigentliche Ware attraktiv. Wer übersehen kann, dass es weniger zu gewinnen gibt, wird beim Spiel als puristischem Vergnügen hier besser bedient als bei vielen Spieler der Europa League.

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