"Stuttgart 21 ist ein dummes Projekt"

Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin hält es für möglich, dass Baden-Württemberg von einem Parteifreund regiert wird. Für das umstrittene Projekt Stuttgart 21 empfiehlt er einen Volksentscheid. Zudem erwartet er schon vor 2013 einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.

Die Grünen profitieren am meisten vom Verdruss über Schwarz-Gelb. Denken Sie schon daran, einen Kanzlerkandidaten zu küren?

Trittin Offenbar hat der "Herbst der Entscheidungen", den Kanzlerin Angela Merkel ausgerufen hat, Schwarz-Gelb nicht mehrheitsfähiger gemacht. Es gibt in allen Umfragen eine rot-grüne oder gar grün-rote Mehrheit. Augenscheinlich geben wir Grünen überzeugendere Antworten auf Schwarz-Gelb. Wir werden als die Alternative zur Regierung angesehen. Die Linke hat eine Bundespressekonferenz für die Ankündigung benutzt, sich nicht weiter mit sich selbst beschäftigen zu wollen.

Wir fragten nach einer möglichen Kanzlerkandidatur.

Trittin Wir sind Realisten. Wir müssen jetzt alles daran setzen, die gegenwärtige Stimmung in tatsächliche Stimmen – in Sachsen-Anhalt, in Rheinland Pfalz und in Baden-Württemberg – umzusetzen. Das sind die nächsten Etappenziele auf dem Weg, Schwarz-Gelb 2013 abzulösen.

Im kommenden Jahr stehen sieben Landtagswahlen an. In Baden-Württemberg und in Berlin könnten die Grünen die SPD überrunden. Ist ein grüner Regierungschef denkbar?

Trittin Die Personen dafür haben wir, aber das steht für uns nicht im Vordergrund.

Was dann?

Trittin Wir wollen eine Energiewende und eine andere Verkehrspolitik, wir wollen mehr Bildung und mehr Integration, es geht uns um Konzepte. Das kommt offenbar beim Wähler an.

Für uns hat es eher den Anschein, dass die Grünen wie etwa beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 auf den Zug der Dagegen-Republik aufspringen.

Trittin Unsinn. Wir waren schon vor 15 Jahren im Oberbürgermeister-Wahlkampf in Stuttgart gegen dieses unterirdische Projekt. Wir haben damals argumentiert, dass es für den Nahverkehr besser ist, 16 Gleise zu haben statt der acht, die für Stuttgart 21 vorgesehen sind. Inzwischen ist offenbar eine Mehrheit dagegen.

Was sollte eine mögliche grün-rote Regierung in Baden-Württemberg tun, wenn sie das Bahnhofsprojekt erbt – den Neubau stoppen und 1,6 Milliarden Euro Schadensersatz zahlen?

Trittin Der Betrag wird zu prüfen sein. Aber selbst 1,6 Milliarden noch einmal 3,5 Milliarden hinterherzuwerfen, ist ziemlich dumm. Die Grünen werden nach meiner Erwartung nur mit einer solchen Partei koalieren, die bereit ist, einen ergebnisoffenen Volksentscheid durchzuführen.

Stuttgart 21 ist nicht das einzige Großprojekt, dem sich die Grünen widersetzen. Es gibt neuerdings sogar Widerstand gegen die Trassen von Hochspannungsleitungen, die Wind-Strom transportieren.

Trittin Sie übersehen, dass es vielfach CDU-geführte Kommunen sind, die sich gegen neue Stromtrassen wehren. Wir Grünen wissen, dass das Stromnetz für den massiven Umstieg auf erneuerbare Energien umgebaut und erweitert werden muss. Wir wehren uns aber dagegen, dass diese Netze weiter mit Atomstrom oder gar zusätzlichen Kohlekapazitäten verstopft werden.

Demonstrieren Sie dann auch mal für den Bau einer Hochspannungsleitung?

Trittin Da fragen Sie den Falschen. Ich habe als Umweltminister 2005 ein Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg gebracht.

Können Sie das noch einmal wiederholen?

Trittin Ich brauchte auch lange, um das fehlerfrei auszusprechen. Dieses Gesetz sollte helfen, den Bau von Stromtrassen schneller voranzubringen. Das Gesetz ist leider gescheitert – am Widerstand von Union und FDP im Bundesrat. Die wollten nicht, dass sich die Stromerzeugung in Deutschland an die Nordsee verlagert. Das lag nicht im Interesse von RWE und den anderen Atomkonzernen.

Am Wochenende steht wieder ein Castor-Transport von Atommüll nach Gorleben an – mit massiven Protesten. Noch 2001 hat der Umweltminister Trittin bei vergleichbaren Transporten gesagt, er verstehe den Protest nicht. Warum wollen Sie jetzt wieder demonstrieren?

Trittin Den Grund liefert der jetzige Umweltminister Röttgen. Er hat den Baustopp für Gorleben aufgehoben, den ich verhängt hatte. Jetzt wird in Gorleben am Endlager weitergebaut, ohne dass es jemals ein atomrechtliches Verfahren gegeben hat. Und er erhöht die Menge des Atommülls durch die Laufzeitverlängerung um Hunderte von Tonnen – Grund genug, gegen diesen Schwarzbau zu demonstrieren.

Eine von Ihnen gestellte Regierung würde alles rückgängig machen?

Trittin Wir werden uns nur an einer Regierung beteiligen, wenn wir zum Atomkonsens von 2000 zurückkehren und ein Auswahlverfahren für Endlager durchführen.

Eine solche Regierung könnte ja auch die Linken als Partner einschließen.

Trittin Die Linke muss vor allem ihr Verhältnis zur Europäischen Union klären. Wer nicht Ja zu einem gemeinsamen Europa sagt, darf in Deutschland keine Verantwortung übernehmen.

Was ist mit dem Einsatz in Afghanistan?

Trittin Das Thema Afghanistan ist 2013 vom Tisch.

Hören wir richtig?

Trittin Die Kampftruppen der Alliierten ziehen sich Stück für Stück zurück. Die Niederländer sind schon weg, die Kanadier folgen nächstes Jahr, die Polen im Jahr darauf. Glauben Sie im Ernst, dass die deutschen Truppen da noch viel länger bleiben werden?

Afghanistan macht keinen sehr friedfertigen und gefestigten Eindruck.

Trittin Deshalb müssen wir mit unserer Polizei und unseren zivilen Kräften noch lange im Land bleiben. Der militärische Einsatz bleibt aber begrenzt.

Martin Kessler fasste das Gespräch zusammen.

(Rheinische Post)
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