Europas Gene Ein Kontinent sucht seine Gemeinsamkeiten

Düsseldorf · Der Kontinent sucht seine Gemeinsamkeiten. Dabei hat Europa aus Sicht der Naturwissenschaft seit 5000 Jahren eine solide Basis. Der Blick auf die Gene zeigt: Nationalitäten werden überschätzt, Migration bietet große Vorteile.

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Wo liegen Europas Wurzeln? In der Unterzeichnung der römischen Verträge kurz nach dem Zweiten Weltkrieg? Ist es das Reich von Kaiser Karl dem Großen? Oder sind die Römer oder die Griechen der Prototyp der ersten Europäer? Die Naturwissenschaften liefern eine neue Antwort auf diese alte Frage. Die Wurzeln der Europäer sind viel älter als bisher vermutet, bedeutend älter als das Wort Europa, das im 8. Jahrhundert vor Christus in Homers „Ilias“ erstmals Erwähnung findet. Die genetische Basis ist etwa 5000 Jahre alt. Seit dieser Zeit hat sich das Erbgut der Bewohner dieses Kontinents nicht mehr wesentlich verändert.

Das ist das Ergebnis von Untersuchungen an der heutigen Bevölkerung und dem Vergleich mit der DNA aus den Knochenfunden von Menschen, die früher in Europa lebten. „Die Knochen der Frühmenschen werden zum Logbuch, das persönliche Geschichten von Einwanderung und genetischer Vermischung erzählt“, erklärt Johannes Krause, Direktor des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena. Er hat einige Tausend Knochen analysiert, in denen winzige Mengen der historischen DNA erhalten geblieben sind. Es ist eine Spurensuche auf dem gesamten Kontinent.

Krause zählt zu den führenden Archäogenetiker weltweit. Dieser neue Zweig der Wissenschaft liefert seit gut einem Jahrzehnt faszinierende Ergebnisse. 2008 haben Forscher das Erbgut eines ausgestorbenen Mammuts vollständig entschlüsselt. Zwei Jahre später schrieb das Team um Johannes Krause ein Kapitel der Menschheitsgeschichte neu. Sie untersuchten einen etwa 70.000 Jahre alten, kleinen Fingerknochen, der in einer Höhle im sibirischen Altaigebirge gefunden worden war.

Krause ermittelte aus den genetischen Information in der DNA, dass der winzige Rest eines Frühmenschen von einer zuvor unbekannten Bevölkerungsgruppe stammt, die ähnlich wie der Neandertaler zu den Verwandten des anatomisch modernen Menschen gehört. In solchen Zuordnungen liegt die Stärke der Archäogenetik: Die Wissenschaftler vergleichen die DNA von menschlichen Überresten, die an weit entfernten Orten gefunden wurden.

So erzählt jeder Knochen, der in Europa gefunden wird, ein bisschen über die Herkunft und die Entwicklungsgeschichte der Menschen, die den Kontinent besiedelt haben. Wohlgemerkt, dabei geht es nicht um veränderte Gene, sondern meistens um kleine Änderungen in den weniger wichtigen Bereichen der DNA, die aber innerhalb einer Bevölkerungsgruppe über die Generationen vererbt werden. Besitzen zwei Knochen ähnliche charakteristische Merkmale im Erbgut, stammen sie deshalb vermutlich von der gleichen Gruppe ab. Große Unterschiede werten die Wissenschaftler als Beweis, dass die Menschen zu unterschiedlichen Abstammungslinien gehört haben.

Was Krause und seine Fachkollegen von anderen Forschungseinrichtungen entdeckt haben, wird Nationalisten kaum gefallen. Der Genpool der Europäer stammt nämlich aus einer Kombination von drei großen Einwanderungswellen, nationale Grenzen lassen sich darin nicht erkennen. Sie spielen keine Rolle. „Die Archäogenetik kann zu vielen gesellschaftlichen Debatten ihren Beitrag leisten“, schreibt Krause deshalb in seinem neuen Buch „Die Reise unserer Gene“ selbstbewusst. Niemand könne jetzt noch abstreiten, dass Mobilität im Wesen des Menschen liege, ergänzt der Wissenschaftler.

Im Puzzle zu den einzelnen Wanderungen der Bevölkerungsgruppen fehlen noch etliche Teile. Schließlich ist das Forschungsgebiet noch sehr jung. Aber das große Bild lässt sich bereits erkennen. In vielen Punkten ergänzen die genetischen Untersuchungen die bisherigen Erkenntnisse der Archäologen. Demnach erreichte der moderne Mensch in verschiedenen Gruppen vermutlich vor etwa 42000 Jahren Europa und verdrängte dort den Neandertaler, mit dem er sich aber noch für ein paar Tausend Jahre die Region teilte.

Doch die Besiedlung des Kontinents stand unter einem schlechten Stern, denn das Klima wurde ständig kälter. Vor rund 25.000 Jahren begann eine Eiszeit, die viele der neuen Bewohner nicht überstanden. Die Forscher haben Knochen gefunden, deren genetische Charakteristik beim heutigen Europäer nicht mehr vorkommt. Für die damaligen Menschen gab es kaum eine andere Chance, als in wärmere Regionen zu ziehen. Sie flüchteten nach Italien, Spanien und Portugal. Auf die iberische Halbinsel retteten sich zwei verschiedene Abstammungslinien, eine davon hinterließ auch in Italien ihre Spuren.

Als der Frost später Mittel- und Nordeuropa wieder freigab, zogen die Jäger und Sammler weiter. Diese Menschen besaßen kein ausgeprägtes Heimatbewusstsein. Sie zogen dahin, wo sie Nahrung fanden. Bestandteile ihres Erbguts lassen sich heute in der DNA jedes Europäers finden – sie bilden aber nicht den Kern des europäischen Erbguts, sondern stellen meistens nur einen kleineren Teil. Die zweite Gruppe, die Europas Entwicklung bestimmte, erreichte erst vor 8000 Jahren den Kontinent. Es waren Siedler aus Anatolien und dem Nahen Osten, die den Ackerbau mit in ihre neue Heimat brachten. Viele Jahre galt es Stand der Forschung, dass die Jäger und Sammler in Europa langsam sesshaft wurden und die Landwirtschaft erlernten. Doch der genetische Blick auf Knochenfunde zeigt, dass sich nicht etwa das Wissen um den Ackerbau allmählich über das Land verbreitete. Es wurde mit einem Mal von Menschen gebracht.

Denn plötzlich tauchen in der DNA europäischer Knochenfunde Veränderungen auf, die die Forscher von den frühen Bewohnern Anatoliens und des Nahen Osten kennen. Die Einwanderung spielt eine wichtige Rolle, denn die DNA-Charakteristik verbreitet sich über den gesamten Kontinent. Vermutlich haben die erfolgreichen Landwirte die ursprüngliche Bevölkerung in die Regionen verdrängt, die sich für Ackerbau schlechter eigneten, aber den Jägern und Sammlern genug Platz zum Überleben ließen. Natürlich vermischten sich beide Gruppen im Laufe der Jahrhunderte.

Auch die dritte Einwanderungswelle brachte den Europäern vor 5000 Jahren eine neue Technologie. Diesmal kamen die Einwanderer aus der Steppe nördlich des Kaukasus und des kaspischen Meers. Sie waren Viehzüchter, ritten wohl auf Pferden, nutzten das Rad und kannten die Metallbearbeitung. Diesmal verdrängten die neuen Bewohner in ganz Europa die Landwirte von den besonders attraktiven Flächen. Archäologen wissen aus ihren Funden bei Grabungen, dass es in dieser Zeit viele gewalttätige Konflikte gab. Aber wenn die Neuankömmlinge die lokale Bevölkerung ausgemerzt hätten, sähe die Basis des Erbguts der Europäer heute anders aus.

Alle Einwanderungswellen spiegeln sich noch heute in der DNA der Menschen auf dem gesamten Kontinent wider – in unterschiedlichem Ausmaß. Im Baltikum etwa ist der Anteil der Steppengene wesentlich höher als in Sardinien. Krause entwirft in seinem Buch für das Erbgut der Europäer das Bild der kontinuierlichen und in jede Richtung fließenden Übergänge. Mit genetischen Analysen lassen sich deshalb keine Grenzen begründen, weder nationale Schlagbäume noch Außengrenzen der EU. Weder am Ural noch am Bosporus wird ein Bruch erkennbar, nicht einmal jenseits des Mittelmeers in Nordafrika haben die Menschen plötzlich eine wesentlich andere DNA als Europäer.

„Zwar verschieben sich von der iberischen Halbinsel bis zum Ural gleichmäßig die Häufigkeiten bestimmter Genvarianten, und Genetiker können auch sagen, woher die einzelnen Menschen stammen“, erklärt Krause. Aber der Versuch, diese Unterschiede mit nationalen Grenzen in Übereinstimmung zu bringen, sei „ungefähr so aussichtsreich, wie einen Farbkreis in einzelne Farben zu unterteilen und harte Grenzen zu ziehen“.

Auch manche Argumentation, die die Herkunft einer Person mit besonderen Fähigkeiten verknüpft, entlarvt die Archäogenetik als Unfug. So lassen beispielsweise die Ergebnisse der vergleichenden Analysen keine Zweifel, dass Genvarianten, die mit höherer Intelligenz verknüpft werden, weltweit gleichmäßig auftreten. Die moderne Genforschung wird noch viele andere Vorurteile abräumen. Europas Selbstverständnis könnte sich durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften wandeln. Vielleicht sind es Forscher wie Johannes Krause, die Europa mit dem Blick auf das große Ganze und auf die Geschichte der Menschheit enger zusammenwachsen lassen.

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