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Hans-Dietrich Genscher "Europäer haben eine Menschheitsaufgabe"

Als Außenminister prägte Hans-Dietrich Genscher (FDP) fast zwei Jahrzehnte lang die Außenpolitik der Bundesrepublik. Bis heute ist der frühere Vizekanzler hinter den Kulissen aktiv. Zuletzt sorgte der 86-Jährige mit seinem Engagement zur Freilassung des russischen Regimekritikers Michail Chodorkowski für Schlagzeilen.

Sie waren von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister. Hatten Sie, dessen Heimat lange Zeit auf dem Boden der DDR lag, nach der Wiedervereinigung das Gefühl, dass Ihre Mission gewissermaßen erfüllt ist?

Genscher Die Wiedervereinigung war das große Ziel meines politischen Engagements. Als ich als 18-Jähriger aus dem Krieg kam, hätte ich mir nicht vorstellen können, mein Leben der Politik zu widmen. Das ergab sich, als es um die Frage ging, wie das Nachkriegsdeutschland aussehen soll. Wir setzten große Hoffnung in die Demokratie. Insofern war der Westen unseres Landes das Deutschland, das sich meine Freunde und ich erträumt hatten. Weil dieser Traum im Osten aber nicht erfüllt wurde, empfand ich es als meine Pflicht, mich für die Menschen in meiner alten Heimat zu engagieren.

1992 erschien das Buch "Das Ende der Geschichte" von Francis Fukuyama. Der amerikanische Politologe schrieb dort vom endgültigen Sieg des Liberalismus über den Kommunismus und sagte einen Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft voraus, der zu einer Welt ohne Gegensätze und Konflikte führen würde. Waren Sie damals ähnlich optimistisch?

Genscher Es kann kein Ende der Geschichte geben, solange es Menschen gibt. Solange stehen wir vor der Herausforderung, unsere Erde lebensfähig und lebenswürdig zu machen. Das Paradoxe ist, dass dabei die größte Gefahr vom Menschen selbst ausgeht, durch Krieg, Ausbeutung der Ressourcen und Ähnliches. Daraus resultiert, dass wir Werte wie Freiheit und Menschenwürde immer wieder aufs Neue verteidigen müssen. Und zwar nicht nur hier und heute, sondern auch mit Blick auf andere Länder und künftige Generationen.

Fukuyama hat nicht recht behalten. Es gibt weiterhin Konflikte. Heute ist die Lage wohl komplizierter als zu Zeiten des Ost-West-Konflikts — oder?

Genscher Ich kann Ihrer Einschätzung nicht folgen. Die Frage der Bewahrung des Friedens in der Phase des Kalten Krieges war eine komplizierte Angelegenheit. Uns war stets bewusst, dass ein Teil Deutschlands im Zugriffsbereich der anderen Seite lag. Da fällt jede Entscheidung schwer. Das war nicht weniger, sondern anders kompliziert.

Was ist heute anders kompliziert?

Genscher Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Frage, ob die bipolare Weltordnung mit Nato und Warschauer Pakt durch eine unipolare mit den USA im Mittelpunkt ersetzt wird. Heute leben wir in einer multipolaren Welt, die uns vor andere Herausforderungen stellt. Die Europäische Union ist eine Art Zukunftswerkstatt für eine neue Weltordnung. Die europäischen Länder haben aus der blutigen Vergangenheit gelernt. Wir streiten heute in Europa über Inhalte, das Freund-Feind-Schema ist überwunden.

Wenn man in vielen europäischen Ländern das Erstarken von rechtspopulistischen und eurokritischen Parteien betrachtet, könnte man zur Einschätzung gelangen, dass der Nationalismus wieder Auftrieb erhält.

Genscher Das liegt weniger an der Stärke der EU-Skeptiker als an der Schwäche der Befürworter. Sie sind weniger bereit zu sagen, was Europa wirklich bedeutet und was die europäische Integration geleistet hat: Freiheit, Frieden und Wohlstand. Wenn man das betrachtet, müssen einem die Botschaften der Rechten ziemlich mickrig vorkommen.

Zeigt der Erfolg dieser Strömungen, dass die Geschichte vom europäischen Frieden vor allem bei jungen Europäern nicht mehr genug Kraft entwickelt?

Genscher Menschen, die ihr ganzes Leben im Frieden verbracht haben, wird das Friedensversprechen natürlich weniger faszinieren als solche, die Kriege erlebt haben. Die Europäer müssen erkennen, dass sie eine Menschheitsaufgabe haben. Die Verwirklichung der europäischen Werte darf nicht an den europäischen Grenzen Halt machen. Die Idee der universellen Menschenrechte trägt die Verpflichtung in sich, sie in die Welt hinauszutragen. Das ist etwas, für das man auch junge Leute begeistern kann.

Man muss nur an die Grenzen der EU gehen, um Felder möglichen Engagements für Menschenrechte zu sehen. Wie müsste sich die EU beispielsweise im Fall Ukraine verhalten?

Genscher Bis vor Kurzem hat die EU Finanzhilfe für die Ukraine noch verweigert. Nun bietet sie diese an und verbindet damit die Forderung, dass die Opposition an der Regierung beteiligt wird. Da stelle ich mir schon die Frage: Warum erst jetzt?

Müsste Deutschland eine stärkere Rolle spielen?

Genscher Deutschland ist das stärkste Land der EU. Ich teile aber nicht die Meinung derer, die sagen, wir müssten jetzt mehr Verantwortung übernehmen. Deutschland hat nach der moralischen Katastrophe unter dem Nazi-Regime fundamentale Entscheidungen getroffen. Die Entscheidung etwa, dass Deutschland Teil der westlichen Staatengemeinschaft wird, hat über die Zukunft Europas entschieden. Auch die Entspannung zwischen Ost und West haben wir vorangetrieben. Wer sagt, wir müssten Verantwortung wahrnehmen, verkennt, dass wir das schon damals gemacht haben.

Im Zuge der Eurokrise hat das Auswärtige Amt einen Bedeutungsverlust erfahren. Der Finanzminister gilt als der neue Außenminister.

Genscher Ich teile diese Einschätzung nicht. Es hat immer etwas damit zu tun, welche Bedeutung der jeweilige Minister im Kabinett hat. 1988 ging es beispielsweise in Europa um die Frage, ob wir eine Währungsunion brauchen. Der damalige Finanzminister war dagegen, das Bundeskanzleramt unentschieden. Ich habe die Währungsunion dann mit einer Denkschrift forciert. Wenig später wurde sie vom Europäischen Rat verabschiedet. Über die Rolle, die ein Minister spielt, entscheidet er selbst mit.

Ist das eine Kritik an Ihrem Parteifreund Guido Westerwelle, den viele als eher blassen Außenminister wahrgenommen haben?

Genscher Nein. Die Rolle eines Ministers hat auch etwas damit zu tun, wie stark das Gewicht der Partei in der Regierung ist.

Westerwelle hatte mit 14,6 Prozent bei der Bundestagswahl 2009 das beste FDP-Wahlergebnis der Geschichte im Rücken.

Genscher Das stimmt. Dennoch war er gerade zwei Jahre im Amt, als die Frage des Libyen-Einsatzes im UN-Sicherheitsrat anstand. Da tritt man natürlich anders im Kabinett auf als jemand, der bereits 14 Jahre auf dem Buckel hat, so wie ich 1988.

Im Dezember haben Sie zur Freilassung des kremlkritischen Michail Chodorkowski beigetragen.

Genscher Ich möchte nicht über die Freilassung von Michail Chodorkowski sprechen.

Warum?

Genscher Es gibt Menschen, die gerne über ihre Heldentaten — oder was sie dafür halten — reden. Das Ergebnis ist, dass sie verbrannt sind, weil niemand mehr mit ihnen verhandelt. Meine Erfahrung ist: Je weniger man redet, desto größer ist die Möglichkeit, Menschen zu helfen.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE AMIEN IDRIES. IDRIES IST REDAKTEUR DER "AACHENER ZEITUNG".

(RP)
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