Porträt von Frans Timmermans „Super-Frans“ steht für Europa pur

Brüssel · Der Niederländer Frans Timmermans versteht wie kein Zweiter die komplizierten europäischen Institutionen und ist doch nah bei Europas Bürgern.

 Frans Timmermans, Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei der Europawahl, ist Favorit für den Vorsitz der EU-Kommission.

Frans Timmermans, Spitzenkandidat der Sozialdemokraten bei der Europawahl, ist Favorit für den Vorsitz der EU-Kommission.

Foto: Anne Orthen (ort)

Manchmal können sieben Minuten die Welt zum Besseren wenden. Als der niederländische Außenminister Frans Timmermans im Sommer 2014 in New York vor dem UN-Sicherheitsrat wütend Aufklärung verlangte über den Abschuss des in Amsterdam gestarteten Malaysia-Airlines-Flugzeugs mit der Nummer MH17, stockte selbst den hartgesottenen Vertretern Russlands und Chinas für einen Moment der Atem. „Stellen Sie sich vor, Sie erfahren, dass Ihr Mann getötet wurde, und dann, zwei oder drei Tage später, sehen Sie Bilder, wie irgendein Verbrecher den Ehering von seiner Hand stiehlt“, schilderte der Chefdiplomat der Niederlande das Leid der Angehörigen. Zuvor war bekannt geworden, dass Menschen vor Ort die Leichen in der abgestürzten Maschine beraubt hatten. 300 Menschen kamen damals zu Tode. Russische Raketen – so der Abschlussbericht eines internationalen Ermittlerteams unter niederländischer Führung – hatten das Flugzeug über der Ostukraine getroffen.

Über Nacht wurde der in Maastricht geborene Katholik der beliebteste Politiker der Niederlande. Er galt als „Super-Frans“ und Anwärter auf den Ministerpräsidenten-Posten in seinem Heimatland. Ihn und nicht den viel erfahreneren Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem schickte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte als Kommissar nach Brüssel. In der EU-Zentrale wurde der gelernte Sprachwissenschaftler und Jurist als Vizepräsident der EU-Kommission die „rechte Hand“ des Vorsitzenden Jean-Claude Juncker. Er könnte ihn nun beerben.

Timmermans kennt die Institutionen der EU aus dem Effeff, hat aber nie die Bodenhaftung verloren, die ihm sein Elternhaus aus dem beschaulichen Maastricht vermittelt hatte. Zwar brachte ihm insbesondere der Vater, der mit einer Deutschen verheiratet war, als Diplomat die Welt des internationalen Parketts nahe. Aber schon die Erinnerung an die Großväter, die beide als Bergleute unter Tage arbeiteten, lehrte ihn, wie hart manche Menschen ihr tägliches Brot verdienen müssen. Das führte ihn zur Sozialdemokratie.

Seine glänzenden rhetorischen Fähigkeiten kamen ihm vor allem im jüngsten Europawahlkampf zupass. Obwohl er Deutsch nur als Fremdsprache beherrscht, konnte er im direkten TV-Duell der beiden Spitzenkandidaten gegen den konservativen Manfred Weber punkten. Fast zehn Prozentpunkte gewann seine sozialdemokratische Partei der Arbeit bei der Europawahl in den Niederlanden hinzu und wurde dort stärkste Kraft. Ausgerechnet die Partei, die sonst im politischen Leben des Landes kaum noch eine Rolle spielt, erweckte er zu neuem Leben.

Dass die Sozialdemokratie seine politische Heimat ist, hat Timmermans auch in seiner Zeit als Top-Beamter in Brüssel nie verleugnet. Und erst recht im Wahlkampf vertrat er konsequent sozialdemokratische Positionen. So setzte er sich für einen europäischen Mindestlohn ein, plädierte für eine solidarische Arbeitslosenversicherung innerhalb der EU und forderte Brüsseler Subventionen für den sozialen Wohnungsbau ein. Pragmatisch ist er im Umgang mit der hohen Verschuldung einiger EU-Länder und bei Kredithilfen für in Not geratene Euro-Staaten. Manchen in der konservativen EVP gilt er darum als Statthalter des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Brüssel. „Timmermans steht für ein zentralistisches Europa mit EU-Arbeitslosenversicherung und zentral verordneten Mindestlöhnen“, kritisiert etwa Markus Pieper, Geschäftsführer in der konservativen Fraktion des EU-Parlaments.

Angeblich steht der Sozialist sogar für die Vergemeinschaftung der Schulden einzelner Haushaltssünder wie Griechenland und Italien ein. Doch dafür gibt es keine Belege. Timmermans arbeitete in der Gruppe des früheren italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti mit, die sich für solide EU-Finanzen starkgemacht hat. Gegenüber Ländern wie Italien vertritt er sogar eine strikte Haushaltsdisziplin und spricht sich für EU-Strafen aus. „Er kann da seine niederländischen Gene nicht verleugnen“, meint ein Top-Beamter aus Brüssel. In Wettbewerbsfragen und in der praktischen Wirtschaftspolitik steht er der liberalen dänischen Kommissarin Margrethe Vestager nahe.

Am konsequentesten handelte Timmermans bislang, wenn es um die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit ging. Ein ums andere Mal strengte er Verfahren gegen Polens rechtspopulistische Regierung an, um eine Justizreform aufzuhalten, die an der Unabhängigkeit der Gerichte kratzte. Kein Wunder, dass Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki ihn schmäht als einen, der „Europa stark spaltet“.

Der Niederländer kann trotz seiner katholischen Herkunft eben calvinistisch streng sein, wenn es um Prinzipien geht. Dazu trägt auch sein aufbrausendes Temperament bei, mit dem nicht nur enge Mitarbeiter bisweilen zu kämpfen haben.

Ob er ein starker Kommissionspräsident wird, hängt nicht nur von der Wahl des EU-Parlaments und der Unterstützung der europäischen Staats- und Regierungschefs ab. Entscheidend wird auch die künftige Zusammensetzung der Kommission sein. Denn er benötigt einen starken Generalsekretär, einen Posten, auf den er wohl kaum seinen bisherigen Intimus, den niederländischen Kabinettschef Ben Smulders, berufen kann. Den allmächtigen Vorgänger Martin Selmayr dürfte er indes ablösen, wenn er das System Juncker überwinden will, das vor allem auf einem riesigen informellen Beziehungsgeflecht gegründet war.

Sollte die Dänin Margrethe Vestager seinen Posten als Vizepräsidentin der Kommission einnehmen, könnte er einen neuen Aufbruch in der mächtigen, aber auch undurchsichtigen Mega-Behörde in Brüssel wagen. Vestager gilt in wirtschaftlichen Fragen als noch klarer und scharfsinniger als der Niederländer. Die Verbindung der Stärken beider Persönlichkeiten könnte Europa insgesamt zugute kommen. „Er ist einer der Besten“, sagen Insider – nicht nur aus dem Lager der Sozialdemokratie.

Doch bis zur Übernahme des Chefsessels in Brüssel liegt noch ein weiter Weg vor dem Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten, der vor der Wahl auf ein Bündnis der Parteien links von der Mitte hoffte. Timmermans braucht für seine Ernennung zwar nur eine einfache Mehrheit im Parlament, kann aber abgelehnt werden. Sollte die EVP den Personalvorschlag des Rats ablehnen, dürften die Voten der übrigen Europabefürworter nicht ausreichen, um ein Nein zu verhindern. Der Niederländer muss bis dahin noch einige Überzeugungsarbeit leisten.

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