Interview mit EU-Kommissar Günther Oettinger „Europa braucht mehr Weltpolitik-Fähigkeit“

Brüssel · Der CDU-Politiker hält vorerst an dem EVP-Spitzenkandidaten Weber als Kommissionspräsidenten fest. Plan B wäre ein starker wirtschaftsnaher Kommissarsposten für Deutschland sowie zusätzlich Bundesbank-Chef Jens Weidmann als EZB-Chef.

 Günther Oettinger (CDU)

Günther Oettinger (CDU)

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Sie unterstützen Manfred Weber als neuen Kommissionspräsidenten. Warum ist der Posten aus deutscher Sicht wichtiger als der Chefposten der Europäischen Zentralbank (EZB)?

Oettinger Die Kommission ist die Geschäftsführung Europas und der Präsident ist für die Politik Europas einer der Hauptverantwortlichen. Wir hatten eine erfreulich hohe Wahlbeteiligung bei der Europawahl. Gerade in Deutschland haben die Spitzenkandidaten Manfred Weber und Frans Timmermans medial eine große Rolle gespielt. Wenn jetzt jemand Kommissionschef würde, der nicht Spitzenkandidat gewesen ist, wäre das eine Enttäuschung für eine Reihe von Wählern, die wegen dieser Personen zur Wahl gegangen sind.

Aber Frankreichs Präsident Macron hat sich klar gegen Weber positioniert. Kann die Bundeskanzlerin Weber wirklich gegen Macron durchsetzen?

Oettinger Bei der letzten Besetzung des Kommissionspräsidenten war der britische Premier Cameron auch dezidiert gegen Jean-Claude Juncker. Daran sieht man, dass auch ein großes Land kein Vetorecht hat. Schwierig wird es, wenn die bisher bestehende Blockade von allen liberalen und den sozialistischen Regierungschefs fortbesteht. Gegen zehn Länder ist Weber nicht durchsetzbar.

Was wäre dann aus deutscher Sicht die Second-Best-Lösung?

Oettinger Für den Gipfel am Sonntag gilt, dass die gesamte EVP Manfred Weber unterstützt. Erst wenn Weber wegen der Blockade von einer zu großen Zahl von Mitgliedstaaten nicht durchsetzbar ist, müssen wir über andere Lösungen nachdenken. Dann brauchen wir einen starken Kommissar für Deutschland...

... was wäre ein starker Kommissar?

Oettinger ...das wäre zum Beispiel ein Kommissar, der mit Forschung, Industrie und Wirtschaft zu tun hat. Und dann stellt sich die Frage, ob Jens Weidmann eine Chance hat, EZB-Präsident zu werden. Aber es ist zu früh darüber zu spekulieren, weil unsere Priorität am Sonntag auf Weber als Kommissionspräsident liegt.

Was würde sich unter Weber im Vergleich zu Juncker verändern?

Oettinger Weber ist ein ausgewiesener Fachmann für Innen- und Sicherheitspolitik. Er will etwa mehr grenzüberschreitende Kompetenzen der Sicherheitsbehörden. Hier wird er seinen Schwerpunkt setzen.

Laufen Deutschland und Frankreich nicht Gefahr, wegen des Patts am Ende gar keinen der beiden EU-Spitzenposten zu bekommen?

Oettinger Stimmt, eins zu Null für Deutschland oder Frankreich ist unwahrscheinlich, dann wird es eher Null zu Null ausgehen. Es liegt aber nahe, dass von insgesamt fünf Spitzenposten je einer an Deutschland und Frankreich geht. Es sind ja auch noch die EU-Außenbeauftragte, der Nato-Generalsekretär und der EU-Parlamentspräsident neu zu besetzen. Es darf aber nicht der Regional-Proporz allein im Mittelpunkt stehen, sondern es geht zuallererst um Kompetenz. Jens Weidmann wäre ein guter EZB-Chef. Aber auch Herr Villeroy, Herr Liikanen oder Herr Rehn wären es.

Ist die EU reif für einen deutschen EU-Kommissionschef oder EZB-Chef?

Oettinger Die Deutschen sind in der EU schon sehr gut vertreten. Die Europäische Investitionsbank, der Rettungsschirm ESM, die Generalsekretäre des Parlaments und der Kommission, der Präsident des Europäischen Rechnungshofes sind alles Deutsche...

...es stimmt also gar nicht, dass Deutschland in Brüssel schlecht vertreten ist?

Oettinger Nein! In Brüssel hat man oftmals den Eindruck, dass die Deutschen zu stark in der ersten Reihe stehen. Ich setze mich für Manfred Weber als Kommissionschef ein, nicht weil er Deutscher ist, sondern weil er das richtige Profil als Europäer hat.

Wenn Bundesbankchef Weidmann, ein konservativer Geldpolitiker, EZB-Präsident werden würde - wäre das dann gut für die Sparer, weil dann die Zinsen schneller stiegen?

Oettinger Den Niedrigzinskurs kann kein EZB-Präsident, egal, wer es wird, in absehbarer Zeit verändern. Er wird noch mehrere Jahre andauern müssen. Der Wechsel an der EZB-Spitze darf auf keinen Fall mit der Erwartung der Sparer auf bald wieder drei Prozent Zinsen verbunden sein.

Warum ist das so?

Oettinger Die wirtschaftliche Lage in der EU trübt sich gerade ein. Eine Erhöhung des EZB-Zinssatzes könnte das Wachstum noch weiter verringern. Ich kann den Sparern nur raten, in dieser Zeit in Aktien zu gehen, denn die Dividenden und Kurssteigerungen sind seit Jahren beachtlich.

Wie muss sich die EU jetzt aufstellen für die nächsten fünf Jahre, um den Wettbewerb gegen die USA und China zu bestehen?

Oettinger Wir brauchen mehr Weltpolitik-Fähigkeit. Es geht um den Welthandel, das Weltklima, den Weltfrieden und hohe weltweite Flüchtlingsströme, mit denen wir umgehen müssen.

Aber die Uneinigkeit in der EU war ja nie größer als heute.

Oettinger Streit ist notwendig, wenn man unterschiedliche Positionen zu einem Kompromiss führen muss. Gerade der Brexit hat gezeigt, dass 27 Länder das Problem gemeinsam angehen und sich nicht spalten lassen. Ich bin optimistisch, dass wir bei den großen Fragen in den nächsten fünf Jahren zu guten gemeinsamen Positionen kommen können.

Wird es zu einem geordneten Brexit kommen?

Oettinger Das hängt entscheidend davon ab, wie der neue britische Premierminister, wahrscheinlich Boris Johnson, in den drei Monaten von Ende Juli bis Ende Oktober konstruktive Lösungen unterstützt. Ein Austritt ohne jede Regelung wäre ein massiver Schaden für die 27 EU-Staaten, aber ein noch viel größerer Schaden für das Vereinigte Königreich.

Wie soll die EU mit Italien umgehen, das sich in der Haushaltspolitik nicht um EU-Regeln schert?

Oettinger Wir werden nächste Woche in der EU-Kommission entscheiden, ob wir ein Defizitverfahren gegen Italien beantragen...

Sind Sie dafür?

Oettinger Man muss sehen, ob die Italiener in diesen Tagen für die Haushaltsstruktur 2020 sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite der Kommission deutlich entgegen kommen. Wenn sie es nicht tun, haben wir keinen Spielraum, ein Defizitverfahren zu vermeiden.

Aber auch das könnte ja Italiens rechtsnationaler Regierung egal sein...

Oettinger Ein Defizitverfahren führt am Ende auch zu hohen Strafzahlungen an die EU. Die Regierung in Rom muss sich drei Mal überlegen, ob sie die Erwartungen der EU negiert. Denn die Finanzierung des Staatshaushalts Italiens, die Handlungsfähigkeit der Banken hängen entscheidend vom Vertrauen der Investoren ab. Ein eskalierender Konflikt mit Brüssel würde dieses Vertrauen nachhaltig erschüttern.

Sie werden die Kommission bald verlassen. Wie sieht Ihre persönliche Zukunft aus?

Oettinger Meine Arbeit geht noch bis Ende Oktober, wahrscheinlich sogar bis Jahresende weiter. Ich habe ein paar Angebote, in die freie Wirtschaft zu gehen. Ich bleibe CDU-Mitglied, aber ich will in kein neues politisches Amt oder Mandat mehr übernehmen.

(mar)
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