20 Jahre Mauerfall (4) Gorbatschow — Mahner und Hoffnungsträger

Düsseldorf (RP). Zweimal besuchte der sowjetische Staats- und Parteichef 1989 Deutschland: im Juni die Bundesrepublik und im Oktober, zum 40. Gründungstag, die DDR. Im Westen wurde "Gorbi" mit Lob und Sympathie überschüttet, den Aufenthalt im Osten empfanden beide Seiten als Zumutung. Die Demonstranten in der DDR dagegen setzten ganz auf Gorbatschow.

Bilder von Gorbatschow: witzig, charmant, klug
29 Bilder

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Die DDR feierte. In Ost-Berlin marschierte am 7. Oktober 1989, zum 40. Jahrestag der Staatsgründung, die Volksarmee, vor Rostock kreuzte auf der Ostsee die Volksmarine. Der Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzende der DDR, der 77-jährige Erich Honecker, ließ die Mitglieder des Politbüros der Staatspartei antreten und in Stichworten aufsagen, wie weit es der deutsche Arbeiter- und Bauernstaat gebracht habe. Honeckers Pech: Sein Gast Michail Gorbatschow, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), dem die Schau galt, wusste, dass sie getürkt war.

Elf Tage später war Honecker seine Ämter los. Das Politbüro schickte ihn mit der Begründung, er sei krank, in Pension. Wiederum zwei Wochen später ließ Michael Gorbatschow Honeckers Nachfolger Egon Krenz in Moskau wissen, dass er die Feiern zum 40-jährigen Bestehen der DDR am 7. Oktober 1989 als Zumutung empfunden hatte. Der Genosse Erich Honecker, sagte der Generalsekretär der sowjetischen KP zu Krenz, habe sich offenbar für die Nummer eins im Sozialismus, wenn nicht sogar in der Welt gehalten. Er habe nicht mehr real gesehen, was wirklich vorgehe.

Mit keinem Wort hatten die Polit-Bürokraten beim Treffen mit Gorbatschow die neue Fluchtwelle aus der DDR über Ungarn und die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik erwähnt. Kein Wort fiel darüber, dass unter den Flüchtlingen viele waren, die zur Funktionselite des Staates gehörten. Stattdessen hatte Honecker über das Staatsfernsehen die Parole ausgeben, den Flüchtlingen sei keine Träne nachzuweinen. Gegenüber Gorbatschow kein Wort darüber, dass die von Honecker gepriesene DDR-Mikroelektronik den gesetzten Zielen weit hinterherschlich. Erst recht kein Wort darüber, dass die beim Westen hoch verschuldete DDR kurz vor der Staatspleite stand.

Das alles gestand Krenz erst am 1. November 1989, als er — inzwischen die neue Nummer eins der SED — nach einer kritischen DDR-internen Bestandsaufnahme beim großen Bruder in Moskau seinen Antrittsbesuch machte. Er habe gewusst, antwortete Gorbatschow, dass die Lage schlecht sei. Er habe aber nicht gewusst, dass sie so schlecht sei.

Dabei hatte Gorbatschow bei den Feiern in Ost-Berlin der DDR-Spitze Steilvorlagen zur Verkündung einer neuen Politik geliefert. Er hatte das Thema Fluchtwelle vor den politischen Spitzen der DDR aufgegriffen und Umgestaltung, "Perestroika" auf Russisch, als Gegenmittel angepriesen. In seiner Festrede hatte er "Demokratisierung, Offenheit, sozialistischer Rechtsstaat, freie Entwicklung aller Völker" als politische Ziele formuliert und im kleineren Kreis zur Selbstkritik und zum Realismus aufgerufen. "Wenn wir zurückbleiben", hatte er vor dem SED-Politbüro erklärt, "bestraft uns das Leben sofort", woraus später der Satz wurde: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Er hatte gesagt: "Wenn die Partei nicht auf das Leben reagiert, ist sie verurteilt." Erich Honecker hatte auf die offenen und versteckten Vorhaltungen nur bissig reagiert. Wie denn die Versorgungsschwierigkeiten in der Sowjetunion zu erklären seien, hatte er von Gorbatschow wissen wollen.

Anders als für den SED-Chef und seine Umgebung war Gorbatschow für viele Menschen in der DDR dagegen durchaus ein Hoffnungsträger. Am 7. Oktober, als in Ost-Berlin und Rostock der Staat seine Macht demonstrierte, war es in vielen Städten der DDR zu Demonstrationen gekommen. In Ost-Berlin distanzierten sich die zahlreichen Demonstranten sowohl von den Flüchtlingen wie auch vom SED-Regime alter Prägung. Die wichtigsten Parolen: "Wir bleiben hier" und "Gorbi, hilf uns".

So einfach war das nicht. Unter Gorbatschow hatte sich Moskau von der alten Praxis verabschiedet, Richtungsänderungen der Zentrale auch bei den Satelliten-Staaten mal mehr, mal weniger brutal durchzusetzen. Die Militärdoktrin der UdSSR war stillschweigend geändert worden. Öffentlich wurde verkündet, jedes Land entscheide selbst über seinen Weg.

In seiner Festrede zum DDR-Jubiläum hatte Gorbatschow das noch einmal betont: "Fragen, die die DDR betreffen, werden nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden." Von der Breschnew-Doktrin, nach der die Zugehörigkeit zum sozialistischen Lager auch mit Zentral-Gewalt gesichert werden konnte, hatte sich der Warschauer Pakt bereits im Sommer förmlich verabschiedet. Honecker hatte damals beim Ostblock-Gipfel in Bukarest einen Zusammenbruch erlitten und war vorzeitig abgereist. Gorbatschow hatte danach — gemäß den neuen Leitlinien — darauf verzichtet, ihn aus dem Amt zu drängen.

Das, obwohl der sowjetische Staatschef schon lange vor diesem Termin deutlich gemacht hatte, dass er von der SED-Führung genau so viel hielt wie diese von ihm: nicht viel. Deutlich geworden war das auch in der Bundesrepublik.

Die hatte der sowjetische Staatschef im Juni 1989 vier Tage lang besucht. Wolfgang Clement, zu der Zeit Leiter der Düsseldorfer Staatskanzlei, war mit Gorbatschow im damals neuesten Zug der Bundesbahn — dem ICE — von Bonn nach Dortmund und zurück gereist. Er war tief beeindruckt von der Kritik des Sowjetführers an seinen Ost-Berliner Verbündeten — nannte aber keine Einzelheiten. Nur soviel: Denen in Ost-Berlin müssten die Ohren geklungen haben.

In der Bundesrepublik erlebte Gorbatschow ein politisches Klima, das sich grundlegend von dem der DDR unterschied. Wahrscheinlich hinterließ es deswegen nachhaltige Spuren bei dem sowjetischen Reformpolitiker. Nach Dortmund kam Gorbatschow, weil ihn der Betiebsrat des Stahlkonzerns Hoesch — und nicht irgendeine Regierungsstelle — zu einer Rede eingeladen hatte. In Sindelfingen sprach er vor Mercedes-Betriebsangehörigen, in Köln vor Politikern und Unternehmern. Überall, auch beim "Bad in der Menge" auf dem Bonner Marktplatz, registrierte Helmut Kohl, damals Kanzler der Bundesrepublik, eine "Gorbimanie", eine Woge von Sympathie- und Freundschaftsbekundungen.

Die kamen spontan. Etwa an einem Abend, als Generalsekretär und Kanzler, begleitet nur von einem Dolmetscher, auf einem Mäuerchen am Rhein in Bonn saßen, an dem Spaziergänger vorbeigingen, die — als sie die Politiker erkannten — Gorbatschow mit Lob überschütteten. Das habe Gorbatschow beeindruckt, schreibt Kohl im Rückblick. In einer Tischrede am Ende des viertägigen Besuchs zog der Gast aus Moskau Bilanz: "Wir ziehen einen Strich unter die Nachkriegsperiode."

Kohl betont in seinen Memoiren, er selbst habe dem sowjetischen Staatschef zugesichert, nicht die Destabilisierung der DDR zu betreiben. Er habe aber auch herausgestellt, die DDR werde durch die Starrheit des SED-Regimes destabilisiert. Und er habe, nicht zuletzt im persönlichen Gespräch auf dem Mäuerchen am Rhein, darauf hingewiesen, dass die deutsche Einheit keineswegs von der Geschichte abgeschrieben sei. Gorbatschow habe da zum Schluss auch nicht mehr widersprochen.

Der Chef der sowjetischen KP, so Kohl, habe in Bonn offenbar keine offizielle Kritik an Erich Honecker üben wollen. Aber er habe die Distanz zur Ost-Berliner Führung durch einen Satz deutlich gemacht: Auch für die DDR gelte der Grundsatz, dass jeder für sich selbst verantwortlich sei.

Dieser Besuch — so zeigt sich im Rückblick — hatte schwer wiegende Folgen für die Ereignisse bis zum Ende der Ende der DDR und die spätere deutsche Einheit. Denn damals, im Juni 1989 beim Besuch Gorbatschows in der Bundesrepublik, wurde Vertrauen aufgebaut. Sehr viel Vertrauen, das in den kommenden Monaten erheblichen Belastungen ausgesetzt wurde — und das diese Belastungen aushielt. Immer wieder griff der Kanzler zum Telefon, und immer wieder konnte er dem sowjetischen Staatschef seine Sicht der Dinge darlegen. Als sich die Flüchtlingswelle aufbaute, als die Mauer fiel, als sich immer stärker abzeichnete, dass die DDR keine Zukunft hatte.

(RP)
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