Islamisten vor Haftentlassung Alarm für die Terrorabwehr

Exklusiv | Berlin · In diesem Jahr kommen bis zu 43 potenziell gefährliche Islamisten auf freien Fuß. Die Grünen zweifeln an der Koordinierung der Sicherheitsbehörden und fordern neue gesetzliche Grundlagen. Wenn sich Anschlagspläne verdichteten, dürfe das den Behörden nicht erneut entgehen.

 Einsatzkräfte der Polizei sichern eine Straße während des Attentates eines aus der Haft entlassenen Islamisten in Wien Anfang November 2020.

Einsatzkräfte der Polizei sichern eine Straße während des Attentates eines aus der Haft entlassenen Islamisten in Wien Anfang November 2020.

Foto: dpa/Georg Hochmuth

Die Sicherheitsbehörden müssen sich dringend auf neue Herausforderungen durch islamistische Gefährder einstellen. Wie die Bundesregierung auf Grünen-Anfrage mitteilte, ist damit zu rechnen, dass bis zu 43 potenziell gefährliche und derzeit noch inhaftierte Islamisten im Laufe dieses Jahres auf freien Fuß kommen. Die Grünen sorgen sich, dass die Gefährder-Einstufung und Abstimmung von Überwachungsmaßnahmen im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum immer noch nicht optimiert ist. Erst im November war in Österreich ein entlassener Islamist von den Behörden falsch eingeschätzt worden. Er hatte in Wien vier Menschen getötet und 20 weitere verletzt, bevor er von Sicherheitskräften erschossen wurde.

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Verbindungen gab es seinerzeit auch nach Deutschland. So hätten die Wiener Behörden spätestens nach einem Treffen des 20-jährigen, aus Nordmazedonien stammenden Mannes im Juli mit Islamisten aus Deutschland und der Schweiz alarmiert sein müssen. Bereits im Februar hatte der österreichische Heeresnachrichtendienst explizit vor dem späteren Attentäter gewarnt, nachdem dieser Kontakt zu einem Mitglied der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aufgenommen hatte.

Der 20-jährige war wegen des Versuches, in Syrien für den IS zu kämpfen, zu einer 22-monatigen Haftstrafe verurteilt worden, konnte jedoch vorzeitig das Gefängnis verlassen. Er hatte die erfolgreiche Teilnahme an einem Deradikalisierungsprogramm vorgetäuscht. Auch in Deutschland konnte die Bundesregierung keine letztlich verbindlichen Angaben zum Zeitpunkt der anstehenden Haftentlassung von Dschihadisten machen, da diese zum Teil noch nicht feststünden.

Unter dieser Einschränkung teilte das Justizministerium als Ergebnis einer Umfrage unter den für den Strafvollzug zuständigen Ländern mit, dass im Jahr 2021 nach derzeitigem Kenntnisstand „zwischen 20 und 26 Personen“ aus der Haft entlassen würden, die wegen einer Tat im Zusammenhang mit islamistisch motiviertem Terrorismus inhaftiert seien. Hinzu kämen 17 weitere Personen, die zwar wegen anderer Straftaten verurteilt worden seien, wegen Islamismus oder Verdachts darauf unter besonderer Beobachtung stünden.

„Wenn in diesem Jahr bis zu 43 möglicherweise gewalt- oder gar anschlagsbereite Islamisten aus dem Gefängnis kommen, muss sichergestellt sein, dass es im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) eine konsistente Strategie zum Umgang mit diesen Menschen gibt“, sagte Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic unserer Redaktion. Es gehe darum zu priorisieren und darum von vorneherein klar zu bestimmen, welche Behörden für wen verantwortlich sind. „Wo sich Anschlagspläne verdichten, darf uns in keinem Fall entgehen“, verlangte Mihalic. Der Fall des Breitscheidplatzattentäters Anis Amri habe schon einmal klar aufgezeigt, wie man es nicht machen dürfe.

Wie mehrere Untersuchungsausschüsse nach dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt mit zwölf Toten und mehr als 60 Verletzten herausfanden, war der Täter über viele Monate hinweg immer wieder Gegenstand der Absprachen im GTAZ gewesen. Die Überwachung lag jedoch in den Händen der Behörden in NRW und Berlin, die die Gefährlichkeit unterschiedlich bewerteten, die Observation beendeten, nicht genügend Nachdruck auf eine mögliche Inhaftierung und Abschiebung legten und ihn zuletzt aus dem Blick verloren.

„Meine Sorge ist, dass die Zusammenarbeit im GTAZ immer noch nicht grundlegend reformiert wurde“, erklärte Mihalic. Die im GTAZ zusammenarbeitenden Vertreter von 40 Sicherheitsbehörden treffen sich täglich, um besondere Vorkommnisse und bekannte Gefährder zu besprechen. Das GTAZ ist keine Behörde mit klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten, sondern lediglich eine Plattform, die nach den Terroranschlägen von New York und Washington 2004 ins Leben gerufen worden war. Wie das Innenministerium betont, gibt es deshalb auch keinen Leiter, sondern nur eine Kooperation „auf Augenhöhe“. Damit gibt es auch keine verbindlichen Anweisungen und Rückmeldepflichten, wie die einzelnen Bundes- und Landesbehörden mit gefährlichen Personen umgehen sollen. Mihalic hält deshalb eine „klare gemeinsame Rechtsgrundlage für unbedingt nötig“.

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