Interne Untersuchung „Partygate“-Bericht könnte über Johnsons Zukunft entscheiden

London · Der Skandal um Partys während des Lockdowns bringt den britischen Premier immer weiter in Bedrängnis. Ende des Monats wird ein Bericht der internen Ermittlerin Sue Gray erwartet.

 Boris Johnson steht derzeit mächtig unter Druck.

Boris Johnson steht derzeit mächtig unter Druck.

Foto: dpa/The Times

Bisher hat den Namen Sue Gray in Großbritannien kaum jemand gekannt. Doch nun könnte ein von ihr verfasster Bericht das politische Überleben des britischen Premierministers Boris Johnson besiegeln. Bis Ende des Monats soll die interne Ermittlerin Anschuldigungen untersuchen, denen zufolge Johnson und weitere Regierungsmitglieder 2020 und 2021 trotz Corona-Beschränkungen abendliche Partys feierten.

Insgesamt untersucht Gray rund ein Dutzend mutmaßlicher Zusammenkünfte. Die meisten sollen in Johnsons Amtssitz in der Downing Street stattgefunden haben. Unter anderem am Vorabend der Beerdigung von Prinz Philip, bei der Königin Elizabeth II. aufgrund der geltenden Kontaktbeschränkungen allein in der Kirche saß, fand eine Party statt. Eine weitere, während es den Briten untersagt war, Angehörige im Krankenhaus zu besuchen.

In der Öffentlichkeit riefen die Anschuldigungen Wut, Unverständnis und Spott hervor. Einige Abgeordnete aus Johnsons konservativer Partei forderten ihn zum Rücktritt auf. Der Premierminister bat vergangene Woche im Parlament zwar um Entschuldigung, gab aber nicht zu, gegen Corona-Auflagen verstoßen zu haben, und verwies auf Grays Bericht.

Dieser Bericht sei ein wichtiger Teil der Aufklärung der Geschehnisse, sagt auch Alex Thomas, ein Programmdirektor des Thinktanks Institute for Government. Doch diejenigen, die erwarteten, dass der Report „den Premierminister entlastet oder verdammt“. würden vermutlich enttäuscht. Letztendlich müssten die konservativen Kabinettsminister und Abgeordneten darüber urteilen, ob sie Boris Johnson an der Spitze ihrer Partei und damit des Landes sehen wollten, sagt Thomas. „Es ist ein großes politisches und öffentliches Thema.“

Ermittlerin Gray soll feststellen, ob es bei den Zusammenkünften Verstöße gegen Vorschriften gegeben hat. Dazu hat sie Zugang zu „allen relevanten Unterlagen“ sowie die Berechtigung, mutmaßlich Beteiligte zu befragen – auch Boris Johnson. Der konservative Bildungsminister Nadhim Zahawi gab an, Johnson habe sich einer Befragung durch Gray bereits unterzogen. Sein Büro bestätigte dies jedoch nicht.

Gray kann festlegen, „ob individuelle disziplinarische Maßnahmen“ gegen Beteiligte gerechtfertigt sind. Wenn sie Beweise für Gesetzesverstöße findet, kann zudem eine polizeiliche Untersuchung eingeleitet werden. Grays Möglichkeiten, Johnson selbst zu rügen, sind jedoch eingeschränkt. Denn normalerweise wird nach einer internen Untersuchung eine Empfehlung an den Premierminister ausgesprochen. Im Fall „Partygate“ wäre Johnson also sein eigener Schiedsrichter.

Für die hohe Beamtin Gray, die üblicherweise hinter den Kulissen agiert, ist es ein ungewöhnlich prominenter Fall. Thomas, der Gray kennt, geht davon aus, dass sie das Rampenlicht nicht genießt. „Im Allgemeinen tritt man nicht in den öffentlichen Dienst ein, um bekannt zu werden“, sagte er.

In der Regierung, für die sie laut einer Regierungswebseite seit mehreren Jahrzehnten tätig ist, gilt Gray als jemand, der sich nicht scheut, Politikern die Stirn zu bieten. 2017 musste der damalige stellvertretende Premierminister Damian Green nach einer von ihr geführten Untersuchung wegen sexuellen Fehlverhaltens zurücktreten. Gleichzeitig wurde Gray aber auch dafür kritisiert, dass sie immer wieder verhindert habe, dass Informationen aus Regierungsdokumenten an die Öffentlichkeit gelangen.

Der Premierminister werde „die von ihr (Gray) festgestellten Fakten akzeptieren“, teilte Johnsons Büro mit. Welche Maßnahmen er daraufhin ergreifen wolle, wurde aber nicht gesagt. Eine ähnliche interne Untersuchung aus dem Jahr 2020, die Mobbing-Vorwürfe gegen Innenministerin Priti Patel bestätigte, ignorierte Johnson weitgehend.

Britischen Medien zufolge plant der Premierminister für den Fall, dass Grays Bericht kritisch ausfällt, hochrangige Regierungsfunktionäre und Berater zu entlassen, um seine eigene Haut zu retten – ein Plan, der als „Operation Save Big Dog“ (deutsch: „Rettet den großen Hund“) bezeichnet wird. Johnsons Sprecher, Max Blain, sagte, er habe diesen Begriff noch nie gehört, und wies die Berichte zurück. Zudem dementierte er, dass die Regierung versuche, mit aufmerksamkeitswirksamen politischen Maßnahmen von den Rücktrittsforderungen aus der eigenen Partei abzulenken.

Zuletzt hatte die Regierung jedoch eine Reihe von Ankündigungen gemacht, die auf konservative Abgeordnete abzielen dürften, deren Unterstützung für Johnson gesichert werden soll. Unter anderem sollen Mittel der Rundfunkanstalt BBC gestrichen werden, das Militär eingesetzt werden, um Migranten auf dem Ärmelkanal zu stoppen und alle noch bestehenden Corona-Beschränkungen aufgehoben werden.

Der oppositionellen Labour-Partei half die „Partygate“-Affäre, in Meinungsumfragen einen zweistelligen Vorsprung vor den Konservativen aufzubauen. Johnson muss sich dem Urteil der Wähler zwar erst wieder 2024 bei den nächsten Parlamentswahlen stellen, doch die Tories sind bekannt dafür, führende Politiker abzusetzen, sobald sie zur Bürde werden.

Johnsons Vorgängerin, Theresa May, wurde 2019 abgesetzt, nachdem sie an den Brexit-Verhandlungen gescheitert war. Johnson könnte das gleiche Schicksal erleiden, wenn die Partei entscheidet, dass er seine Popularität eingebüßt hat. Ein Misstrauensvotum gegen den Parteivorsitzenden kann bei den Konservativen ausgelöst werden, wenn 54 Abgeordnete einen entsprechenden Antrag stellen. Wie viele dieser Anträge bereits eingereicht wurden, ist unklar.

Öffentlich hat bisher nur eine Handvoll konservativer Abgeordneter Johnson zum Rücktritt aufgefordert. Viele andere warten Grays Bericht ab und wie die Öffentlichkeit darauf reagiert.

Die Atmosphäre innerhalb der Konservativen Partei sei von einer „Mischung aus Scham, Wut und Enttäuschung„ geprägt, sagt der konservative Abgeordnete Andrew Bowie gegenüber der BBC. „Es gibt ein echtes Gefühl von Wut und Enttäuschung innerhalb der Partei, und ich denke, dass viele Abgeordnete deshalb mit den Entscheidungen kämpfen, die sie in den nächsten Wochen möglicherweise treffen müssen.“

(th/dpa)
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