Erstmals seit 1970 Rakete nahe Jerusalem eingeschlagen Israel mobilisiert 75.000 Reservisten

Jerusalem/Gaza · Erstmals seit vier Jahrzehnten ist am Freitag eine Rakete militanter Palästinenser im Großraum Jerusalem eingeschlagen. Zudem wurde die Wirtschaftsmetropole Tel Aviv den zweiten Tag in Folge mit einer Rakete angegriffen. Israel will nun 75.000 Reservisten zu den Waffen rufen.

Die Flugkörper verfehlten zwar ihre Ziele und verletzten niemanden. Der Konflikt mit der radikal-islamischen Hamas im Gazastreifen verschärfte sich aber: Statt 16.000 will Verteidigungsminister Ehud Barak nun bis zu 75.000 Reservisten für eine mögliche Bodenoffensive zu den Waffen rufen, wie aus politischen Kreisen verlautete.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der russische Präsident Wladimir Putin warnten vor einer Eskalation im Nahen Osten. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon äußerte sich sehr besorgt.

Die aus dem Gazastreifen abgefeuerte Rakete ging nach Polizeiangaben außerhalb Jerusalems nieder. Es war seit 1970 der erste Einschlag einer palästinensischen Rakete im Umkreis der den drei Weltreligionen heiligen Stadt. Israel beansprucht Jerusalem als seine ungeteilte Hauptstadt, und der Angriff ist von große symbolischer Bedeutung.

Rakete stürzte ins Meer

Der bewaffnete Flügel der Hamas bekannte sich zum Abschuss einer Kassam-Rakete auf die Stadt. In Tel Aviv wuchs die Angst vor Raketenangriffen wie im Golfkrieg vor gut 20 Jahren: Dort wurde Luftalarm ausgelöst, wobei die Rakete der Polizei zufolge ins Meer stürzte.

Nahe der Grenze zum Gazastreifen fuhren Panzer und Panzerhaubitzen auf. Die israelische Armee sperrte drei Straßen für den zivilen Verkehr, die zu dem Küstenstreifen führen oder an ihn grenzen.

Mit den Raketenangriffen auf Jerusalem und Tel Aviv eskaliert der Konflikt. Bislang hatten sich die Bewohner der Großstädte vor Raketenangriffen aus dem Gazastreifen sicher gefühlt. Ein Minister berichtete, auch Regierungschef Benjamin Netanjahu sei in einen Sicherheitsraum gebracht worden. Tel Aviv war im ersten Golfkrieg 1991 das Ziel von Raketenangriffen aus dem Irak. Damals schlugen Scud-Raketen in Israel ein.

Reservisten rücken in Kasernen ein

Beide Seiten beschuldigten sich gegenseitig, die für den Besuch des ägyptischen Regierungschefs Hischam Kandil vereinbarte Waffenruhe gebrochen zu haben. Nach Darstellung der Hamas griff Israel während der Visite Kandils aus der Luft an und tötete zwei Menschen.

Die israelischen Streitkräfte erklärten dagegen, während des Besuchs seien keine Angriffe auf Gaza geflogen worden. "Die Hamas lügt", erklärte die Armee über den Kurznachrichtendienst Twitter. Seit Mittwoch sind 22 Palästinenser und drei Israelis in dem Konflikt ums Leben gekommen.

Ägypten, das regelmäßig zwischen beiden Parteien vermittelt, schlug sich auf die Seite der Palästinenser. Präsident Mohammed Mursi warf der Regierung in Jerusalem eine unverhohlene Aggression vor.

Mit Blick auf den Arabischen Frühling sagte er: "Das Ägypten von heute ist nicht mehr das Ägypten von gestern." Der Präsident war im Zuge des Volksaufstandes an die Macht gekommen. Tausende Ägypter gingen in mehreren Städten auf die Straße, um gegen die israelischen Luftangriffe zu protestieren.

Demonstrationen in Kairo

Nach den Freitagsgebeten versammelten sich etwa in Kairo mehr als 1000 Menschen und schwenkten ägyptische und palästinensische Fahnen.

Die Hamas ist ein Ableger der Muslimbrüder, die Mursi stützen. Der Staatschef hatte nach seinem Amtsantritt zugesichert, den Friedensvertrag mit Israel einzuhalten. Dieser gilt als Säule des brüchigen Friedens im Nahen Osten.

Aus palästinensischen Kreisen erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters, während des Besuch Kandils in dem Küstenstreifen sei an einer Entspannung des Konflikts gearbeitet worden: "Es wurde ein Prozess begonnen, um die Möglichkeit eines Waffenstillstands auszuloten." Noch sei es aber zu früh, um Details zu nennen.

Merkel macht Hamas verantwortlich

Die Konfliktparteien wurden vom Ausland zur Zurückhaltung aufgerufen. Merkel und Putin warnten vor einer weiteren Eskalation. Verantwortlich für den Ausbruch der Gewalt sei die Hamas, sagte Merkel zum Abschluss der deutsch-russischen Regierungskonsultationen in Moskau.

"Wir appellieren an die ägyptische Regierung, auch den Einfluss auf die Hamas geltend zu machen, damit es zu keiner weiteren Eskalation kommt." Putin betonte, beide teilten die Besorgnis über das Verhältnis zwischen Ägypten und Israel.

(unter Mitarbeit weiterer Reuters-Reporter in Jerusalem und Moskau; geschrieben von Volker Warkentin; redigiert von Thomas Seythal)

(REU)
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