Frankreich Ende einer Kaderschmiede

Straßburg · Frankreichs Präsident will die elitäre Hochschule Ena schließen. Ob es damit im Bildungswesen gerechter zugeht, ist zweifelhaft.

 Der Eingang zur Ecole Nationale d’Administration, deren Hauptsitz 1991 von Paris nach Straßburg verlegt wurde. Seit 1945 bildet die Ena die höchsten Staatsbeamten des Landes aus. Kritiker bemängeln freilich schon lange den elitären Corpsgeist der Absolventen und ihre Abgehobenheit.

Der Eingang zur Ecole Nationale d’Administration, deren Hauptsitz 1991 von Paris nach Straßburg verlegt wurde. Seit 1945 bildet die Ena die höchsten Staatsbeamten des Landes aus. Kritiker bemängeln freilich schon lange den elitären Corpsgeist der Absolventen und ihre Abgehobenheit.

Foto: AFP/ERIC CABANIS

Die Studenten, die im Innenhof der École Nationale d’Administration (Ena) diskutieren, tragen Jeans und T-Shirts. Zumindest noch für ein paar Monate. Denn nach ihrem Abschluss an Frankreichs berühmtester Kaderschmiede werden sie in Kostümen und Anzügen in den höchsten Verwaltungseinrichtungen des Landes sitzen. Den 15 besten Absolventen sind sogar lebenslange Positionen in Staatsrat, Rechnungshof und Finanzinspektion sicher. Die Ena-Absolventen bilden die Elite des Landes wie die Statistik zeigt: Vier Präsidenten, acht Premierminister, zahlreiche  Minister und Firmenbosse hat die Ena ervorgebracht.

Auch Emmanuel Macron ist einer von ihnen. Vor 15 Jahren saß der  Präsident noch selbst im Hof, um dort zu lernen. Das Foto seiner Abschlussklasse, das in der Eingangshalle hängt, zeigt in der fünften Reihe einen jungen Mann mit heller Jacke und blondem Wuschelkopf. Doch Macron ist wohl auch der letzte Staatschef, der die Ena in seinem Lebenslauf stehen hat. Er will die Verwaltungshochschule nämlich schließen. „Man muss die Ena abschaffen, um etwas zu schaffen, das besser funktioniert“, sagt er.

Wer die renommierte Schule in Straßburg besucht, hat nicht den Eindruck, dass hier irgendetwas schlecht funktioniert. Die modernen Räume sind bestens ausgestattet, die Studenten hoch motiviert. Dass dennoch etwas nicht stimmt, zeigte sich monatelang ein paar Hundert Meter von der Ena entfernt. Auf dem Straßburger Platz der Republik demonstrierten wie überall in Frankreich die „Gelbwesten“ für mehr soziale Gerechtigkeit. Für sie sind die „Enarchen“, die Abgänger der Ena das Sinnbild der verhassten Eliten: Technokratisch, abgehoben, weit weg von den Sorgen der einfachen Bevölkerung.

Auch Macron ist ein solcher Technokrat. Um das Image des Präsidenten im Elfenbeinturm loszuwerden, begann er im Zuge der Proteste der „Gelbwesten“ eine landesweite Diskussionsveranstaltung mit der Bevölkerung. Stundenlang hörte er den Franzosen zu, bevor er dann Ende April in einer Pressekonferenz die Lehren verkündete, die er aus dem „Grand Débat“ gezogen hatte. Die Abschaffung der Ena, erst auf Nachfrage erwähnt, ist die spektakulärste seiner Maßnahmen. „Es stimmt nicht mehr, dass man leicht zur Elite der Republik aufsteigen kann, wenn man aus einer Familie von Arbeitern, Bauern oder Handwerkern kommt“, begründete der Staatschef seine Entscheidung. In der Tat hatten in den vergangenen Jahren nur rund sechs Prozent der Ena-Studenten einen Arbeiter als Elternteil.

Ähnlich sieht es an den anderen „Grandes Écoles“ aus, jenen Elitehochschulen, die viele Studenten schon vor der Ena absolvieren. Die meisten von ihnen gehen auf die Revolution zurück. Die Revolutionäre wollten damals Schluss machen mit dem Universitätssystem und dessen Privilegien. Statt dessen setzten sie auf einen Wettbewerb, den „Concours“, in dem die Besten ausgesucht werden. Ihr demokratischer Ansatz wurde allerdings im Laufe der Jahrhunderte ins Gegenteil verkehrt.

Mehr als 200 Jahre nach der Revolution ist es heute wieder eine privilegierte Elite, die Zugang zu den besten Schulen hat. Denn hinein kommt nur, wer spezielle Vorbereitungskurse absolviert hat. Jene „Classes Prépa“ in die vor allem die Kinder aus gutem Hause gehen, die vorher schon die besten Gymnasien des Landes besucht haben. Solche Einrichtungen kosten nicht immer Geld, liegen aber in den besseren Vierteln und verlangen von ihren Schülern ein Allgemeinwissen, das in der Regel nur in den gut situierten Familien weitergegeben wird.

„Das ganze Bildungssystem ist von sozialen Unterschieden geprägt“, sagt der Rektor der Ena, Patrick Gérard. „Wir sind nur am Ende des Trichters.“ Seine Beobachtung wird von vielen Experten geteilt. „Wir haben ein System, das nur für eine kleine Elite geschaffen ist“, bemerkt auch der Soziologe Luc Rouban. Diese bilde eine Art „staatlichen Adel“, der wie zu Zeiten der Monarchie unter sich bleibt. So holte François Hollande gleich mehrere Absolventen seiner Ena-Abschlussklasse in sein Kabinett. Politiker wie Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, der Jura studiert und nicht die Ena absolviert hatte, gehörten dagegen nie wirklich dazu. Ihm fehlten vor allem die Verhaltensregeln, die die anderen in ihren Eliteschulen verinnerlichen. So stellte er etwa sein Privatleben plump zur Schau und zog damit viel Spott auf sich.

Frankreich gehört laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD zu den Ländern, in denen der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischer Leistung am stärksten ist. Die Kluft, die in der Schule entsteht, setzt sich später fort: Sechs Generationen dauert es in Frankreich ebenso wie in Deutschland, bis ein Geringverdiener in die mittleren Einkommensschichten aufsteigt. Im OECD-Durchschnitt sind es viereinhalb und in den skandinavischen Ländern nur zwei Generationen. „Der soziale Fahrstuhl ist schon seit langem kaputt“, schreibt die Organisation. Die Ena ist also nur das das oberste Stockwerk, das kaum noch erreichbar ist.

Mit der Abschaffung der Verwaltungshochschule opfert Macron, der schon im Wahlkampf mehr soziale Mobilität versprochen hatte, das Symbol des französischen Elitismus. Das Phänomen selbst aber dürfte auch nach der Schließung weiter bestehen. „Man kann den Eindruck haben, dass Emmanuel Macron als eine Art republikanischer Monarch sich ein bisschen Erleichterung verschafft, indem er der Bevölkerung ein paar Köpfe auf dem Tablett serviert“, kommentiert der Meinungsforscher Jérôme Fourquet die Entscheidung des Präsidenten.

Ähnlich formuliert es Adeline Baldacchino, die als Ena-Absolventin 2015 das Buch „La Ferme des Enarches“ („Die Farm der Enarchen“) veröffentlichte. „Das ist eine demagogische Maßnahme. In seinem Wunsch, auf die Wut der Gelbwesten zu reagieren, konzentriert er sich auf die hohen Beamten.“ Die Mitarbeiterin des Rechnungshofes fordert stattdessen, die Ena von innen zu reformieren und die Studenten beispielsweise mit „Arbeiterpraktika“ näher an den Alltag der Franzosen zu bringen.

Vorschläge, die Ena zu reformieren oder sie ganz abzuschaffen gibt es schon seit Jahrzehnten. 1995 wollte Präsident Jacques Chirac, selbst ein Enarch, die Verwaltungshochschule schließen. Der konservative Politiker kritisierte sie ungewöhnlich offen als „Symbol einer Elite, die versagt hat, einer Kaste, die sich selbst koopiert.“ Sein Nachfolger Sarkozy scheiterte daran, auch nur Anpassungen am Privilegiensystem vorzunehmen. Vor allem der mit Ena-Absolventen besetzte Rechnungshof und der Staatsrat wehrten sich zusammen mit einer mächtigen Lobby ehemaliger Enarchen, die in allen Parteien vertreten sind, gegen jede Reform. „Ich glaube nicht an Flickwerk, an eine kleine Reform. Das wurde schon von fast allen meinen Vorgängern versucht“, sagt deshalb Macron. Er will einen großen Wurf, so wie er es beim Arbeitsrecht oder der Bahnreform vorgemacht hat.

Doch der Staatschef gab diese Aufgabe ausgerechnet einem weiteren Ena-Abgänger: Frédéric Thiriez, dem ehemaligen Präsidenten der Profi-Fußballliga. Er  soll bis November seine Pläne vorlegen, die nicht nur die ENA, sondern eine Reform des gesamten hohen Beamtentums umfassen. Dass es weiterhin eine Verwaltungshochschule geben soll, machte der Mann mit dem großen Schnauzbart bereits klar. Dort könnte dann das Prinzip der positiven Diskriminierung angewandt werden, um eine größere soziale Durchlässigkeit zu erreichen. Damit holt beispielsweise die Elite-Hochschule Sciences Po jedes Jahr 160 Schüler aus Problemvorstädten auf ihre Bänke. Das Prinzip eines Auswahlverfahrens will Thiriez behalten: „Wir werden die Beamten nicht durch Vetternwirtschaft aussuchen“, kündigte er an.

Die Opposition reagierte trotzdem kritisch auf Macrons Plan. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen, die gerne gegen die Eliten hetzt, sieht darin nur ein Ablenkungsmanöver des Präsidenten. Und die „Gelbwesten“, die die Reform ja durch ihre Proteste angestoßen hatten, sind ebenfalls skeptisch. „Das wird nicht viel ändern“, sagte Carole Kunc nach Macrons Pressekonferenz. „Er kann seine Kollegen auch ohne die Ena überall platzieren.“

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