Erste Aussage im NSU-Prozess Carsten S. spricht über seinen Weg in die rechte Szene

München · Lange hat es gedauert - nun ist die erste Aussage eines Angeklagten im NSU-Prozess getätigt worden. Der 33 Jahre alte Carsten S. berichtete am Dienstag vor dem Oberlandesgericht München ausführlich, wie er auf der Suche nach Anschluss und Anerkennung und verunsichert durch seine damals geheim gehaltene Homosexualität zur rechten Szene kam.

NSU-Prozess: Beobachtungen am dritten Tag
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Carsten S. macht den Anfang. Er ist der erste Angeklagte, der im NSU-Prozess aussagt. Vorsichtig tastet sich der 33-Jährige voran, erzählt seine Geschichte. Anfangs schaut er oft auf ein Blatt Papier, auf dem er biografische Daten notiert hat. Dabei geht es zunächst nur um Persönliches - die Anschläge des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU), die mögliche Beteiligung von Carsten S. spielen erstmal noch keine Rolle.

Es ist die Geschichte eines schwulen Jungen aus der Provinz, der in Jena Anschluss sucht - und ihn in der rechten Szene findet. Carsten S. ist etwa 13 Jahre alt, als er merkt, "dass etwas nicht stimmt". Bei einem Aufklärungsheftchen, das in der Schule verteilt wurde, interessieren ihn die Bilder von nackten Jungen mehr als die von Mädchen. Als er eine Bemerkung darüber macht, schauen ihn alle an. "Da habe ich gemerkt, dass ich einen Fehler gemacht hab'", erzählt Carsten S. Ab da habe er versucht, "mich normal zu verhalten und mich anzupassen". Keine Fehler zu machen. Und gerade deshalb macht er schließlich einen großen Fehler, der ihn Jahre später wieder einholt.

In die Neonazi-Szene gerät Carsten S., weil er sich in der Berufsschule in einen Jungen verguckt - und der ist rechts. Auf ihrer Stube im Lehrlingswohnheim hören sie die "Zillertaler Türkenjäger". "Das fanden wir damals lustig, das haben alle mitgehört." Schließlich gibt es ein Schlüsselerlebnis: Die NPD-Demonstration gegen die Wehrmachtsausstellung in München. Carsten S. sucht Kontakt zur Szene, übernimmt Aufgaben, wird bei den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) aktiv, der Jugendorganisation der rechtsextremen NPD.

Der Entschluss zum Ausstieg

Ende 1999, Anfang 2000 dann der Entschluss zum Ausstieg. S. sollte Landesvorsitzender der JN werden. "Dann komme ich nicht mehr raus", habe er gedacht. Und er erinnert sich an eine Bemerkung von Ralf Wohlleben, der damals eine Größe in der Neonazi-Szene war: "Mich würde es ankotzen, wenn jemand über mich behaupten würde, dass ich schwul wäre", soll Wohlleben gesagt haben. Da sei ihm klargeworden: Das sind nicht meine Leute, erzählt Carsten S.

Wohlleben sitzt in München zwei Plätze weiter, manchmal schaut er hinüber zu seinem ehemaligen Kameraden, regungslos, den Mund zu einem Strich gepresst. Nachdem Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in den Untergrund gingen, machte Wohlleben Carsten S. zu seinem Verbindungsmann, um Kontakt zu halten - für S. eine Auszeichnung. Als die drei sich eine Waffe wünschten, beschaffte er die "Ceska", mit der Böhnhardt und Mundlos neun Menschen erschossen - im Auftrag und auf Anweisung Wohllebens, wie S. in seinen Vernehmungen sagte. Deshalb sind die beiden angeklagt, wegen Beihilfe zu neun Morden.

Die Waffe

Zu diesen für das Verfahren entscheidenden Punkten kommt Carsten S. in seiner Aussage am Dienstag erst spät: Dass die Pistole für Morde benutzt werden könnte, habe er nie geglaubt, betonte der 33-Jährige. Er sei davon ausgegangen, dass damit "nichts Schlimmes passiert", sagte er. "Ich hatte so ein positives Gefühl, was die drei anging, dass die in Ordnung wären, so in die Richtung", sagte er mit Blick auf das mutmaßliche NSU-Terrortrio. Beate Zschäpe sitzt direkt vor ihm. Sie dreht sich nicht um, zwischendurch betrachtet sie ihre Fingernägel.

Es hatte auch an diesem fünften Verhandlungstag in München lange gedauert, bis das Gericht zur Sache kam. Zunächst war wieder die Verteidigung von Zschäpe am Zug - Verteidigerin Anja Sturm verlangte, das Verfahren gegen die Hauptbeschuldigte einzustellen. Es habe eine Vorverurteilung durch staatliche Stellen gegeben, ein faires Verfahren sei nicht mehr möglich.

Juristisch kann das nicht ernst gemeint sein - man stelle sich vor: Das Gericht beendet das Verfahren, weil der eine oder andere Politiker von einer "Mörderbande" gesprochen hat, ohne das gerichtliche Urteil über den NSU-Terror abzuwarten. Schon Wohllebens Anwälte hatten einen ähnlichen Antrag gestellt, den das Gericht am Dienstag mit einer nüchternen Begründung zurückwies. Und der Vorsitzende Richter Götzl machte diesmal deutlich, dass er unbedingt vorankommen wollte. Stoisch räumte er alle Anträge zur Seite, bis Carsten S. endlich anfangen konnte zu reden.

(dpa/felt/jco)
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