Der große Jahresrückblick Das Jahr der Hannelore Kraft

Düsseldorf (RP). Hannelore Kraft hält ihre beiden Männer an den Händen. Links geht Ehemann Udo, rechts Sohn Jan. Um 18.23 Uhr betritt die Familie unter tosendem Jubel das weiße Zelt, das auf dem Bürgersteig vor der Parteizentrale der SPD an der Düsseldorfer Kavalleriestraße steht. "Schwarz-Gelb ist abgewählt", ruft die SPD-Chefin den Anhängern zu. Die Genossen antworten mit Sprechchören: "Hannelore, Hannelore, Kraft, Kraft, Kraft!"

Hannelore Kraft ist neue Ministerpräsidentin in NRW
13 Bilder

Hannelore Kraft ist neue Ministerpräsidentin in NRW

13 Bilder

Es ist der 9. Mai 2010. Soeben sind die ersten Hochrechnungen zum Ausgang der Landtagswahl gesendet worden. Der schwarze Balken der CDU weist tief nach unten. Die Union unter Führung von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ist abgestürzt. Am Ende des Abends verpasst zwar Rot-Grün die absolute Mehrheit knapp um einen Sitz. Aber Hannelore Kraft ist die Wahlsiegerin. Ein Erfolg, der noch wenige Monate zuvor undenkbar schien.

Noch bei der Bundestagswahl im September 2009 hatte die SPD nur desaströse 23 Prozent der Stimmen erzielt. Bei der Landtagswahl schien sich ein Durchmarsch von CDU und FDP anzubahnen. Doch die schwarz-gelbe Regierung in Berlin legte mit dem Streit um die Hotelsteuer einen klassischen Fehlstart hin.

Kanzlerin Angela Merkel fuhr bei der Rettung Griechenlands aus der Finanzkrise einen unpopulären Schlingerkurs. Durch Indiskretionen aus der Düsseldorfer CDU-Parteizentrale wurde das Image von Ministerpräsident Rüttgers schwer beschädigt. Kraft behielt Recht mit ihrer zuvor oft belächelten Zuversicht, dass es am Wahltag zur Ablösung der Landesregierung reichen würde. Die Abstimmung geriet zur Denkzettelwahl.

"Die Basis begeistert"

Doch der Sieg von Kraft kam nicht nur durch die Schwäche von Union und FDP. "Sie hat es geschafft, die von dem Ärger über Hartz-Reformen und die Rente mit 67 zermürbte Basis wieder zu begeistern", sagt Veith Lemmon, der Vorsitzende der Jusos in NRW. Sie stellt die soziale Kompetenz der Partei in den Vordergrund. Ihre Themen sind die Einführung der Gemeinschaftsschule und die Gebührenfreiheit der Bildung von der Kita bis zur Hochschule. "Wir dürfen kein Kind zurücklassen", ruft sie im Wahlkampf in die Säle.

Die Genossen sind angetan von ihrer Vorsitzenden. Die gewährt nun auch bis dato verborgene Einblicke in ihr Privatleben. "Die Gespräche haben in einer sehr entspannten Atmosphäre stattgefunden", sagt Kraft im Gespräch mit RP ONLINE. "Ich finde, dass die Bürgerinnen und Bürger ein Anrecht haben zu erfahren, welcher Mensch die Politikerin Hannelore Kraft ist. Die Veranstaltungen waren sehr gut besucht, insofern hat das Gefühl nicht getrogen."

"Kann schon mal lospoltern"

In der Veranstaltung "Von Mensch zu Mensch" erklärt sie, dass zu Hause Ehemann Udo das Heft in der Hand halte. Sie erzählt vom frühen Tod des Vaters, der wohl stolz auf sie gewesen wäre, von Sohn Jan, der für sein Alter schon "sehr vernünftig" ist, von Mutter Anni, die mit im Haus wohnt. Und natürlich über sich selbst. "Ich kann auch schon mal lospoltern, wenn mir einer quer kommt."

Das stimmt. Bei den Sondierungsgesprächen bekommt die politische Konkurrenz bei den Sondierungsgesprächen nach der Wahl zu spüren. Linke, CDU und FDP kommen als Koalitionspartner für Rot-Grün in Frage. Den Parteien fehlt ein Sitz zur Mehrheit.

Zu "Kraftilanti" kommt es nicht

Zunächst verhandeln Kraft und Sylvia Löhrmann, die Spitzenkandidatin der Grünen, mit der Linkspartei. Die CDU hatte Kraft im Wahlkampf als "Kraftilanti" bezeichnet und ihr unterstellt, die Plane einen "Linkspakt" in NRW. Doch dazu kommt es nicht. Nach wenigen Stunden sind die Sondierungsgespräche beendet. Die verhandlungsunerfahrenen Linken distanzierte sich nicht eindeutig von der DDR-Vergangenheit.

Außerdem schließen sie nicht aus, das die Parteibasis im Falle einer Regierungsbeteiligung gegen Rot-Rot-Grün demonstrieren würde. "Wir haben im Wahlkampf immer wieder erklärt, dass wir die Linkspartei in Nordrhein-Westfalen für nicht regierungs- und koalitionsfähig halten", sagt Kraft rückblickend. "Dies hat sich auch in dem ersten und einzigen Sondierungsgespräch sehr schnell gezeigt. Die Linkspartei in NRW ist noch eine sehr junge Partei."

SPD kann Rüttgers nicht akzeptieren

Danach verhandelt Kraft mit der CDU. Doch die besteht darauf, dass Ministerpräsident Rüttgers eine große Koalition anführen soll. Dass kann die SPD nicht akzeptieren. Nachdem die Verhandlungen gescheitert sind, zeigt sich nun auch die FDP zu Gesprächen bereit. Doch Parteichef Andres Pinkwart kann die Ampel nicht gegen die Kritiker in den eigenen Reihen durchsetzen. Um Mitternacht scheitert die letzte Option, dass Rot-Grün eine Mehrheit findet.

Kraft wirkt enttäuscht. Sie entwickelt den Plan, aus der Opposition heraus mit Anträgen zu regieren. Mühsam versucht sie, den Journalisten das ungewöhnliche Konzept bei Pressekonferenzen in Düsseldorf und in Berlin zu erläutern. Im Wahlkampf hatte Kraft erklärt, eine Minderheitsregierung käme nicht in Betracht. Von dieser Position will sie nicht abrücken.

Überraschende Wende

Doch dann kommt die überraschende Wende. Die SPD-Parteispitze in Berlin ermutigt Kraft, sich zu bewegen und doch eine Minderheitsregierung zu bilden. Auch die Grünen machen Druck. Löhrmann erklärt, Krafts Plan, die alte Regierung im Amt durch Anträge zu zermürben, sei ein Konzept zur Förderung der Politikverdrossenheit.

Schließlich ist ein Interview von FDP-Chef Andreas Pinkwart der Anlass für den 180-Grad-Kurswechsel. Der hatte erklärt, für die FDP sei das Regierungsbündnis mit der CDU beendet. Nun sieht Kraft sich in der Pflicht zu handeln.

"Wir machen das jetzt"

Gegen Mittag kommt Kraft ins Büro von Sylvia Löhrmann. "Wir machen das jetzt", sagt die SPD-Chefin. Die Fraktionschefin der Grünen ist erleichtert. Die Frauen umarmen sich. Von nun an bilden sie eine Schicksalsgemeinschaft. Ihr Ziel: die Bildung einer neuen Landesregierung aus SPD und Grünen.

Die Gespräche über den Koalitionsvertrag gehen unter großem Zeitdruck über die Bühne. Kraft soll noch vor der parlamentarischen Sommerpause vereidigt werden, damit die Regierung vor dem Herbst ihre Arbeit aufnehmen kann. Am 15. Juli ist es schließlich soweit.

"So wahr mir Gott helfe"

Wieder ist die Familie vollzählig in Düsseldorf versammelt. Ehemann Udo, Sohn Jan und Mutter Anni sitzen auf der Besuchertribüne. Udo Kraft hat eine Videokamera dabei, um den historischen Moment für das Familienarchiv festzuhalten. SPD und Grüne stimmen 90 Mal mit Ja für Kraft, CDU und FDP 80 Mal Nein, die Linken enthalten sich. "Herr Präsident, ich nehme die Wahl an", sagt die neue Ministerpräsidentin. Sie schwört, dem Volk zu dienen und Schaden von ihm abzuwenden — "so wahr mir Gott helfe". Kraft hat Tränen in den Augen.

2010 — das ist das Jahr der Hannelore Kraft. "Die Union hat Kraft in ihrer Regierungszeit als vermeintlich schwache Oppositionsführerin oft verspottet", sagt Reiner Priggen, Fraktionschef der Grünen im Landtag. Dann sei der CDU "das Lachen im Hals stecken geblieben". Nach dem tragischen Unglück bei der Loveparade findet Kraft auf der Trauerfeier die richtigen Worte. Sie meistert ihr Amt souverän. Im November wird Kraft mit dem Politik-Award als "Politikerin des Jahres" auszeichnet. Was sagt sie selbst dazu?

"Anstrengend und erfolgreich"

"2010 war für die SPD in NRW ein anstrengendes, aber auch erfolgreiches Jahr", erklärt die Ministerpräsidentin. "Wir haben gemeinsam gekämpft. Die Auszeichnung zur Politikerin des Jahres habe ich stellvertretend für das ganze SPD-Team und die rot-grüne Landesregierung angenommen." Neben dem Stolz auf die Wahl zur Ministerpräsidentin bedeute ihr das Amt der Bundesratspräsidentin sehr viel.

"Es war schon ein besonderes Gefühl an der Fotogalerie aller meiner Vorgänger vorbeizugehen und am Ende mein Bild als erste Bundesratpräsidentin zu sehen", sagt Kraft. Es sei wichtig, dass es künftig mehr Frauen in Führungspositionen als Vorbilder und Brückenbauerinnen gebe. Und zwar nicht nur in der Politik!

Wenig Lust auf Neuwahlen

Noch hat die rot-grüne Minderheitsregierung keine Abstimmung verloren. Der Nachtragshaushalt 2010 wird wohl eine Mehrheit finden. Hält Rot-Grün bis zum Ende der Wahlperiode im Jahr 2015? Kraft ist zuversichtlich. "Die Reaktionen der Bürgerinnen und Bürger zeigen mir, dass sie den neuen Kurs des Dialogs und der Suche nach der besten Lösung für unser Land anerkennen", sagt die Ministerpräsidentin RP ONLINE. "Die Menschen sind die politischen Rituale des Streitens leid."

Und auf Neuwahlen verspürt man auch bei den Genossen derzeit wenig Lust.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort