Der große Jahresrückblick In Vancouver fand der Sport zurück zu sich

Vancouver (RP). Ein Aufschrei geht durch die Stadt. Polizisten reißen sich die Uniformjacken auf und zeigen, dass sie ein rotes Eishockey-Shirt darunter tragen. Der Olympia-Sender CTV schaltet praktisch mit der Schlusssirene zu den jubelnden kanadischen Soldaten in Kandahar, Afghanistan. "Auftrag erfüllt", steht auf den Anzeigetafeln des Skytrains, "Gold für Kanada". Die Olympischen Spielen enden, wie sie schöner für den Gastgeber nicht hätten enden können.

Die Olympiasieger von Vancouver 2010
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Die Olympiasieger von Vancouver 2010

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Mit dem 3:2-Sieg über den Erzrivalen USA in einem dramatischen Eishockeyendspiel. Durch einen Treffer des Volkshelden Sidney Crosby, dessen Rückennummer 87 das Stadtbild seit zwei Wochen prägt. "Diese letzte Medaille wird für Generationen in Erinnerungen bleiben", sagte John Furlong, der Vorsitzende des Organisationskomitees Vanoc, in seiner brillanten Schlussrede.

Peking war zu groß

Der Sport hat in Vancouver zu sich zurück gefunden. Bei den Sommerspielen in China zwei Jahre zuvor hatte er sich verhoben beim Versuch, noch größer zu sein als er ist. Olympia in Peking — das war mehr Politik als Sport, das war eine Nummer zu groß. Die Kanadier aber gaben ihre Liebe zum Sport weiter, so dass er sich selbst genug sein konnte.

Sie feierten eine Party mit stark patriotischem Einschlag, die den Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees an das großartige Sportfest 2000 in Sydney erinnerte. Ein Land hat Olympia in die Hand genommen, wofür der Verkauf von drei Millionen Paar roter Fäustlinge sinnbildlich steht. Die "Vancouverites" lieferten eine Vorlage für die Münchner Bewerbung um die Spiele in acht Jahren, die sich in ihrer Struktur an der kanadischen Erfolgsgeschichte orientiert. Sie boten trotz nassen Westküstenwinters ein "Sommermärchen" nach deutscher WM-Art.

Der Tod eines Rodlers bleibt als Mahnung

Doch zum Wesen des Märchens gehören die dunklen Seiten. Der Tod eines georgischen Rodlers liegt als Mahnung zum Maßhalten auf ewig über diesen Spielen. Unfälle — wie der der Skirennläuferin Anja Pärson — prägen das Bild in gleichem Maße wie die Aufnahmen strahlender Siegerinnen von Magdalena Neuner bis Maria Riesch.

Der Sport hat zu sich zurück gefunden. Deutschland behauptete sich neben den Nordamerikanern und Norwegen in der Weltspitze des Wintersports, auch wenn es anders als in Turin vor vier Jahren nicht für die Spitzenposition im Medaillenspiegel reichte. Nur eine Goldmedaille weniger, aber dafür einen Podiumsplatz mehr als in Turin, drücken Konstanz auf höchstem Niveau aus. Was die Biathleten, die männlichen, dieses Mal im Vergleich zu 2006 versäumten, fuhren die alpinen Skifahrerinnen ein.

Der Erfolg war Frauensache

Überhaupt war der Erfolg mit acht von zehn Goldmedaillen vornehmlich Frauensache. Besonders hoch fiel die Ausbeute auch im Whistler Sliding Center aus, wo deutsche Bobfahrer und Rodler zehn Medaillen gewannen. Vancouver bestätigt, dass "wir eine Wintersportnation sind, die besonders stark im Frauen- und Techniksport" ist, wie Thomas Bach, der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) feststellte. Doch die zwei Wochen von Vancouver machten auch Schwachstellen deutlich.

"Wir sind ein konservatives Sportland", stellte Timm Stade, der Sportchef des Deutschen Snowboard-Verbandes, fest. Am Cypress Mountain, wo es in den Snowboard-Wettbewerben und im Freestyle-Skifahren zwölfmal Gold zu holen gab, spielten die deutschen Athleten keine große Rolle. Auch Shorttrack, das acht Wettbewerbe umfassende Spektakel auf der kurzen Eisbahn, ist ein blinder Fleck. Stade: "Wir haben hier ein strukturelles Problem. Hier muss sich der deutsche Sport etwas überlegen."

Voller Terminkalender

In den traditionellen Sportarten geht es umgehend mit Großereignissen, die auch unter dem Stern der Münchner Bewerbung stehen, weiter. Weltmeisterschaften im alpinen Skisport in Garmisch-Partenkirchen, im Eisschnelllauf in Inzell und im Bobsport am Königssee beschert der Winter 2010/11. In der Saison danach treffen sich die Biathleten zu ihren Weltmeisterschaften in Ruhpolding.

Die deutsche Olympia-Mannschaft schrieb am Pazifik nicht nur ordentliche Zahlen. Sie lieferte auch Geschichten mit Herz und Schmerz, die das ganze Land beschäftigten. Die Diskussionen um die Freiwilligkeit von Magdalena Neuners Abwesenheit in der Biathlon-Staffel, Anni Friesingers Schwimmeinlage auf der Eisbahn und die Nachricht, dass Snowboarderin Amelie Kober als werdende Mutter unterwegs war, bewegten das Publikum.

Bilder prägen sich ein

Die tröstende Umarmung der Slalom-Olympiasiegerin Maria Riesch mit ihrer kurz vor dem Ziel vom Weg abgekommenen Schwester Susanne prägt sich als ein Bild von Vancouver ein. Auch Bobpilot Andre Lange, dieser harte Junge, vergoss zum Karriereabschluss Tränen. Auf rund 3,5 Milliarden taxiert das Internationale Olympische Komitee die Zahl der Zuschauer, die während der 17 Tage von Vancouver und Whistler mindestens einmal TV-Bilder von den Wettbewerben gesehen haben.

Das ist die Hälfte der Menschheit und nicht viel weniger als bei den ungleich vielfältigeren Sommerspielen von Peking (4,7 Milliarden), die rund dreimal so viele Wettbewerbe bieten. Mit Zuschauerzahlen von zum Teil mehr als zehn Millionen setzte sich auf den deutschen Sendern der Wintersport in der Gunst der Fernsehzuschauer sogar gegen Champions League und Europa League durch.

(RP)
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