TV-Talk mit Sandra Maischberger "Hinter jedem Obdachlosen steckt ein Schicksal"

Düsseldorf · Mehr Menschen als je zuvor leben auf der Straße. Obdachlosigkeit ist auch im wohlhabenden Deutschland ein Problem. Sandra Maischberger fragt: Muss der Staat mehr tun?

Das waren die Gäste beim Maischberger-Talk zu Obdachlosigkeit
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Foto: Max Kohr

Darum ging's

Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland nimmt dramatisch zu. Aktuelle Schätzungen gehen von 860.000 Menschen aus, die in diesem Winter keine Wohnung haben. Sandra Maischberger will mit ihren Gästen darüber sprechen, warum Menschen eigentlich auf der Straße landen und ob der Staat genug für sie tut.

Darum ging's wirklich

Zwei ehemalige Obdachlose erzählen, wie es dazu kam, dass sie in Gartenlauben oder Parks lebten. Sie beschreiben auch, warum es so schwer ist, sich aus dieser Situation wieder "hochzuarbeiten". Zwei Journalisten, eine Stadtmissionarin und ein Armutsforscher diskutieren über Mitgefühl, Wohnungsnot und die Rolle des Staates.

  • Klaus Seilwinder, lebte acht Jahre lang auf der Straße
  • Judith Rakers, Tagesschau-Sprecherin
  • Jaqueline Kessler, ehemalige Obdachlose
  • Dorothea Siems, Journalistin
  • Christoph Butterwegge, Armutsforscher
  • Ortrud Wohlwend, Berliner Stadtmission

Frontverlauf

Sandra Maischberger will wissen, warum so viele Menschen auf der Straße leben und ob der Staat mehr für sie tun könne. Denn immer wieder werde zitiert, Deutschlands soziales Netz sei so gut, dass jeder ein Dach über dem Kopf finden könne. Zwei ehemalige Obdachlose - die 26-jährige Jaqueline Kessler und Klaus Seilwinder, der acht Jahre auf der Straße lebte - bestätigen, dass es zwar viele Hilfsangebote und Unterstützung gebe, die Betroffenen aber oft die Anlaufstellen nicht kennen. "Inzwischen wüsste ich, wo ich hingehen sollte", sagt Kessler, die in ihren Jahren ohne Zuhause dreimal Mutter wurde und heute Hundebetreuerin in Mainz ist. Viele sozial Schwache schämten sich für ihre Lage, andere hätten nicht den Hauch einer Ahnung, an wen genau sie sich in einer Notlage wenden könnten.

"Der erste Schritt ist der schwerste", berichtet Klaus Seilwinder, ein ehemaliger Soldat und Chemiefacharbeiter, der nach persönlichen Schwierigkeiten und Alkoholsucht abrutschte. "In ein Amt zu gehen und herauszufinden, wie ich wieder an einen Ausweis komme, war eine riesige Überwindung", erklärt Seilwinder, der sich acht Jahre durch das Sammeln von Pfandflaschen über Wasser hielt. "Heute weiß ich, dass man Hilfe auch einfordern kann, dass es Leute gibt, die es ernst und gut mit einem meinen", sagt er. "Aber das muss man alles erst wieder lernen."

Ortrud Wohlwend von der Berliner Stadtmission weiß um dieses Problem. "Die Hilfe muss zu den Menschen kommen", sagt sie. Menschen, die in Not gerieten hätten oft sogar Angst, einen Brief vom Amt zu öffnen - auch wenn der vielleicht Hilfe anbiete. "Der Staat muss mehr Fürsorge zeigen." Man müsse auf Menschen in Not zugehen, statt ihnen die Tür zu weisen und sie wegzuschicken, wie es mit osteuropäischen Obdachlosen immer häufiger geschehe. Vor allem die Stadt Hamburg greife bei nicht-deutschen Obdachlosen besonders hart durch.

Porträt: Das ist Sandra Maischberger
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Das ist Sandra Maischberger

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Foto: dpa, hka bsc sab

"Man muss die Menschen so nehmen, wie sie sind"

Tagesschau-Sprecherin Judith Rakers hat sich für Obdachlose engagiert, seit sie als 19-jährige Praktikantin in Paderborn einen "Berber" interviewte. Vor vier Jahren ging sie für 30 Stunden ohne Geld auf die Straße, um die Perspektive für kurze Zeit selbst zu erleben. Nachts erklärten ihr andere Obdachlose in Hamburg, sie solle den Reißverschluss ihres Schlafsacks offen lassen, damit sie schneller herauskomme, wenn jemand sie anzünde. Dass Obdachlose täglich mit dieser Angst lebten, war für sie eine furchtbare Erkenntnis.

Erschreckend fand Rakers auch, wie viele Menschen einfach durch sie hindurch sahen, so als existiere sie gar nicht. Es seien oft Schicksalsschläge, die Menschen in diese Situation brächten. Einem Bettler den Euro nicht zu geben, weil er das Geld später vielleicht für Bier ausgebe, mache niemanden zum Abstinenzler. "Man muss die Menschen so nehmen, wie sie sind", sagt die Journalistin. "Man kann nicht jeden mit unseren normalen Maßstäben messen. Hinter jedem Obdachlosen steckt ein Schicksal."

Die Schwierigkeit, eine Wohnung zu finden

"Welt"-Journalistin Dorothea Siems erklärt, die steigende Zahl an Obdachlosen in Deutschland sei auch durch Flüchtlinge und Zuwanderer aus osteuropäischen EU-Ländern bedingt. Zudem sei es vor allem in Ballungszentren heute schwieriger, eine Wohnung zu finden als vor zehn Jahren, wenn man seine Wohnung - etwa durch Mietrückstände - verloren habe. Dass Menschen nicht wüssten, an wen sie sich wenden könnten, sei fatal. "Derlei Aufklärung und Information gehört für mich in die Schulen."

Armutsforscher Christoph Butterwegge stört, dass es keine Statistiken, sondern nur Schätzungen zur Obdachlosigkeit gebe: "Vielleicht wollen wir die Zahlen gar nicht so genau wissen?" Mangel an günstigem Wohnraum ist für ihn eine der größten Hürden auf dem Weg zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Der Staat müsse deutlich mehr Sozialwohnungen bauen und im Zweifelsfall auch mal leerstehenden Wohnraum beschlagnahmen. Dorothea Siems sieht das Problem anderswo: Vor allem durch Klimaschutz und Umweltauflagen sei es inzwischen einfach zu teuer, in Deutschland zu bauen. "Wir müssen die Knappheit an Wohnraum beseitigen", so Siems, aber das funktioniere sicher nicht durch immer neue Bauauflagen und steigende Grunderwerbsteuern.

"Kältehilfe kann nicht die Probleme ganz Europas lösen"

Judith Rakers kritisiert, dass vor allem im Winter Menschen aus anderen europäischen Ländern von sozialen Einrichtungen abgewiesen werden. "Man kann nicht die ganze Welt retten", weiß sie. "Aber es hat auch mit politischem Willen zu tun. Bei der Flüchtlingskrise haben wir so viel geschafft." Wenn es jetzt Ungleichbehandlungen einzelner Gruppen gebe, vertiefe das nur Ressentiments und unnötige Spaltungen.

Ortrud Wohlwend stimmt zu: "Die Kältehilfe kann nicht die Probleme von ganz Europa lösen", sagt sie. "Aber wir müssen den Menschen in den Mittelpunkt stellen." Das ist ihrer Ansicht nach aber nicht allein die Angelegenheit von karitativen Organisationen und des Staates. Auch jeder Einzelne sei gefragt, mal genauer hinzusehen und zu gucken, wo ein Nachbar vielleicht Hilfe brauche oder jemand in einer schwierigen Lage ist, um den man sich mal kümmern könnte. Trotz eines hektischen Alltags.

(juju)
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