Besuch in der alten Heimat Eine bewegende Reise in die Vergangenheit

Wermelskirchen · 73 Jahre nach der Vertreibung kehrte Margit Kannengießer im April in das ehemalige Ostpreußen zurück. Gemeinsam mit Tochter Silke machte sie sich auf Spurensuche.

 Besuch in Kaliningrad: Zum Abschluss der Reise machten Margit und Silke Kannengießer einen Stadtbummel.

Besuch in Kaliningrad: Zum Abschluss der Reise machten Margit und Silke Kannengießer einen Stadtbummel.

Foto: privat

Margit Kannengießer hat kein einziges Foto aus den ersten Jahren ihres Lebens. Keine Abbildung von ihrem Geburtshaus, keine Erinnerungen an die ersten Jahre in Gumbinnen, an Nachbarn oder die Familie. Als die Familie im Winter 1945 aus ihrer Heimat fliehen musste, nahm sie nur das Nötigste mit. Ihre Mutter, ihr Bruder, die Tante mit drei Kindern: Gemeinsam machten sie sich auf den Weg Richtung Westen. Doch sie kamen nicht weit. Die russischen Soldaten holten sie ein, schickten sie zurück und internierten sie im damaligen Tilsit, im heutigen Sowetsk. Drei Jahre später fuhr ein Viehwagon erneut richtig Westen. Und dieses Mal erreichte Margit Kannengießer mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Deutschland – aber ohne eine einzige greifbare Erinnerung im Gepäck. Erst in Lüttringhausen, dann in Dhünn fand die Familie schließlich ein neues Zuhause.

70 Jahre später sind die Erinnerungen immer noch rar, aber ihre Wurzeln, die im ehemaligen Ostpreußen etwa 100 Kilometer östlich von Kaliningrad liegen, hat Margit Kannengießer nie vergessen. „Wenn die Familie in Dhünn sonntags zum Mittagessen zusammenkam, dann wurden die Lieder aus der alten Heimat gesungen“, erzählt sie. Es gab Quarkteilchen, ein Rezept, das die Mutter aus Ostpreußen mitgebracht hatte. Und die Geschichten ihrer Familie wurden lebendig. „Mein Zuhause war immer Dhünn“, sagt die 75-Jährige, „aber umso älter ich werde, desto deutlich werde ich mir meiner Wurzeln bewusst.“ Sie las Ralph Giordanos Berichte und die Bücher von Marion Gräfin Dönhoff. Und sie stellte sich manchmal vor, wie der ferne Ort ihrer Geburt aussehen könnte.

 Eine Reise in die Vergangenheit: Von der Kirche, in der einst die Eltern getraut worden waren, ist nur eine Ruine übrig geblieben.

Eine Reise in die Vergangenheit: Von der Kirche, in der einst die Eltern getraut worden waren, ist nur eine Ruine übrig geblieben.

Foto: privat

Gemeinsam mit Tochter Silke traf sie einen Entschluss: Für ein paar Tagen wollten die beiden Frauen zurückkehren an jenen Ort, an dem 1943 alles begann. Nach Glumbinnen, das heute Gussew heißt und zu Russland gehört. „Wenn wir es jetzt nicht machen, machen wir es nie“, stellte Silke Kannengießer (43) fest, beantragte Visa, buchte einen Reisebegleiter, der gleichzeitig Dolmetscher sein würde und kaufte Flugtickets Richtung Osten. Vier Tage lang machten sich die beiden mit Hilfe des Einheimischen, der wie ein „lebendiges Geschichtsbuch“ gewesen sei, auf die Suche nach den Spuren der Vergangenheit. Eine Detektivarbeit, stellten die Frauen fest. „Ich hatte die Adresse und eine Zeichnung meiner Cousine. Mehr nicht“, sagt Margit Kannengießer. Die Stadtpläne, mit denen sie sich auf den Weg machten, waren zweisprachig. Und trotzdem war die Spurensuche schwierig. „Viele Orte sind einfach verschwunden“, sagt Silke Kannengießer, „dort sind Wiesen und Wälder, wo früher Häuser und Friedhöfe waren.“ Ihr Geburtshaus im ehemaligen Glumbinnen fand Margit Kannengießer trotzdem.

 Erinnerungen werden wach: Margit Kannengießer fand den alten Torbogen ihres Wohnhauses im damaligen Tilsit, im heutigen Sowetsk, wieder.

Erinnerungen werden wach: Margit Kannengießer fand den alten Torbogen ihres Wohnhauses im damaligen Tilsit, im heutigen Sowetsk, wieder.

Foto: privat

Als viel eindrücklicher allerdings entpuppte sich der Besuch im heutigen Sowetsk, das damals Tilsit hieß und wo die Familie zwei Jahre interniert war. „Plötzlich kamen Erinnerungen zurück“, erzählt Margit Kannengießer, „Bilder, die bisher verschüttet waren“. Sie erinnerte sich an den Torbogen zu dem alten Haus, das kurzzeitig zu einem Zuhause geworden war. An die Apotheke gegenüber, mit dem freundlichen Apotheker. Sie aß Quarkteilchen und fühlte sich um Jahrzehnte zurückversetzt. Dann besuchte die 75-Jährige mit ihrer Tochter die Ruine der alten Kirche, in der ihre Eltern getraut worden waren. In einem Museum fanden sie völlig unerwartet ein altes Schulfoto mit dem fröhlichen Gesicht der Cousine. Sie statteten dem Gotteshaus, in dem sie einst Taufe gefeiert hatten, einen Besuch ab. Und am Ende machten sie Station in Kaliningrad, wo die Mutter einst den großen Zapfenstreich auf dem Schlossplatz beobachtet hatte.

Mit vielen bleibenden Eindrücken machten sich die Frauen auf den Heimweg. „Alles war sehr heruntergekommen“, erzählt Margit Kannengießer, „das hat uns wirklich mitgenommen.“ Und doch sei auch jenes Bewusstsein mitgereist, das dort die Wurzeln ihrer Eltern und ihrer Großeltern liegen. „Vielleicht fahren noch wir noch mal hin“, sagt Silke Kannengießer, „und dann bringen wir ein Fläschchen Erde mit.“ Das hätten sie versäumt.

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