Studiobühne Krefeld Ismenes verzweifeltes Streben nach Normalität

Krefeld · Esther Keil spielt Antigones in der mythologischen Überlieferung vernachlässigte Schwester Ismene in dem Monodrama „Schwester von“. Der Darstellerin gelingen 80 spannende Spielminuten in der Fabrik Heeder.

 Als Ismene trägt Esther Keil den Abend im Studio.

Als Ismene trägt Esther Keil den Abend im Studio.

Foto: Matthias Stutte

Ein hochspannendes Theaterprojekt hat die niederländische Autorin Lot Vekemans mit dem 2005 in Haarlem uraufgeführten Bühnenmonolog „Schwester von“ geschaffen. Damals dürfte ihr die bleibende Brisanz ihres Ansatzes, die heute – im Zeitalter von Fake News und einem sich verflüchtigenden Wahrheitsbegriff – gilt, noch nicht bewusst gewesen sein.

Vekemans gibt der in Sophokles‘ Tragödie „Antigone“ zur Randfigur degradierten Schwester der opferbereiten, mutigen Heldin, die ihren Bruder gegen das Verbot des Königs bestattet, gebührenden Raum. Nach 3000 Jahren. Ein Monodrama als Medium für das Ringen um Erkenntnis und Wahrheit.

Esther Keil steht, sitzt, schreitet, flüstert, lacht, trauert und agitiert 80 Minuten auf einer von Udo Hesse eingerichteten Minimalbühne in der Fabrik Heeder. Sie verleiht der von der Geschichte vernachlässigten Schwester Antigones eine Stimme, die behutsam, aber selbstbewusst den Anspruch, „normal“ zu sein in einer „Familie aus lauter Verrückten“, formuliert. Ein rechteckiger Stangenverhau, den weißes Nesseltuch umspannt, ist fast alles, was den Blick auf sich zieht. An diesem trostlosen Ort, an dem eine Verbannte in totaler Isolation die Jahrhunderte überdauerte, redet sich Ismene ihr Anliegen von der Seele. Wobei akustisch simulierte Stechfliegen-Attacken und das Heulen von Hunden ihre einzigen Sinnesreize darstellen.

Keils Ismene fragt nach dem Wahnsinn des Strebens nach Macht („Wieso mussten meine Brüder sich im Kampf um die Königskrone gegenseitig töten?“), sie entlarvt die menschenfresserische Ideologie, die fast ihre gesamte Familie ins Verderben führte. Doch Keil verzichtet auf Pathos, auf laute, hochtrabende Artikulation. Diese Künstlerin zeichnet der Mut aus, dass sie die Zuschauer mit stillem Spiel und statuarischem Auftreten konfrontiert - und gerade so überzeugt. Gebannt hängen wir an den Lippen dieser zierlichen Schauspielerin im schlichten grauen Rock und schwarzen Pulli. Sie pflegt eine bedächtige Redeweise, immer wieder durch Denkpausen unterbrochen. Mal betrübt, mal verzweifelt, traurig, zornig, auch ironisch oder sardonisch lachend. Um anzukommen, braucht diese großartige Schauspielerin nicht den aufgesetzten Aplomb, nicht die schneidende Diktion einer Rampendiva, sie überzeugt gerade durch eine Verhaltenheit, die den Zuschauer gefangen nimmt, indem sie ihn zum Zuhören zwingt. Regisseur Sascha Mey hat Keils vielfältige Kapazitäten klug und ideenreich disponiert. Ganz ohne Atmosphärisches gelingt es freilich nicht, die Spannung weit über eine Stunde zu halten. So erweisen sich die punktuell kommentierenden oder begleitenden musikalischen Einspielungen von Patrick Richardt als willkommene Abwechslung, die nie zur Ablenkung werden.

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