SERIE 725 JAHRE STADTRECHTE FÜR KEMPEN (9) Als Kempen noch eine Doppelspitze hatte

Kempen · Gleich drei Jubiläen kann Alt-Kempen in einem kurzen Zeitraum begehen: 725 Jahre Stadtrechte, aber auch 725 Jahre Bürgermeister, beides im Jahr 2019; 700 Jahre Stadtrat im Jahr 2022. Allerdings waren diese drei Institutionen vor Jahrhunderten völlig anders gestaltet als heute. Ein Rückblick auf die Verfassung der Stadt im Mittelalter.

 Kempens zweites Rathaus am Markt, die Alte Waage, wurde durch Bomben schwer beschädigt und nach dem Krieg abgerissen.

Kempens zweites Rathaus am Markt, die Alte Waage, wurde durch Bomben schwer beschädigt und nach dem Krieg abgerissen.

Foto: Nachlass Karl Wolters

Es ist Mittwoch, der 27. Dezember 1623. Johannistag. Auf den Straßen geht es geschäftig zu. Überall, wo Bekannte zusammentreffen, bleiben sie stehen, stecken die Köpfe zusammen: Wer wird heute an die Spitze der Stadt gewählt? Die Bürgermeister-Kür findet alljährlich statt und vollzieht sich nach einem uralten Ritual: Am Morgen werden die Stadttore geschlossen, die gesamte Bürgerschaft soll zugegen sein. Am Vormittag treffen die Ratsherren sich im Rathaus. Vermögende, einflussreiche Männer, Kempener Honoratioren. In schwarze Talare gehüllt, schlürfen sie aus zinnernen Ratskannen warmen Wein. „Glühwein“, würden wir heute sagen. Auf diese Weise gestärkt, wählen sie dann aus ihrer Mitte den Ratsbürgermeister. Dessen Name wird freilich noch geheim gehalten.

Am Nachmittag wird dann der zweite Bürgermeister gewählt – der Gemeindebürgermeister. Dazu muss man wissen, dass die Stadt damals in Viertel aufgeteilt ist, in vier Mini-Kommunen: in das Kuhstraßen-, Engerstraßen-, Peterstraßen- und Ellenstraßenviertel. Jedes Viertel hat seinen „Koom“, eine Truhe zur Aufbewahrung der viertelseigenen Papiere und seines Vermögens. Der Name leitet sich ab vom lateinischen „communis“: „gemeinsam“. Die Repräsentanten dieser vier Stadtviertel – jeweils vier – werden „Vierder“ genannt. Diese 16 Bürgervertreter versammeln sich nun im Rathaus zur Wahl des Gemeindebürgermeisters. Zunächst bestimmen sie ihre Nachfolger fürs nächste Jahr; deren Namen werden vom Rat geprüft und genehmigt. Die neuen Vierder werden zusammengeholt und wählen aus ihrer Mitte vier Kandidaten zur Wahl des neuen Gemeindebürgermeisters. Erst nachdem einer dieser vier Vorgeschlagenen mit Stimmenmehrheit gewählt worden ist, werden der Stadtgemeinde die Namen des neuen Leitungs-Duos – Ratsbürgermeister und Gemeindebürgermeister – bekannt gegeben.

In diesem Jahr 1623 ist Heinrich Hütter der neue Ratsbürgermeister geworden, Heinrich Rath der neue Gemeindebürgermeister. Feierlich ziehen die Honoratioren zur Kirche, wo der Pfarrer ihnen den Johanniswein kredenzt und den Neugewählten den Segen für ihre Arbeit auf den Weg gibt. Danach zieht der Rat mit dem Pfarrer zum Gelage beim abgegangenen Ratsbürgermeister. Die Vierder zechen im Haus des abgegangenen Gemeindebürgermeisters. Alkohol spielte damals bei Events eine große Rolle.

Kurz gesagt: 600 Jahre lang – von 1294 bis zum Umsturz der alten Verhältnisse durch die Truppen der französischen Revolutionsarmee in 1798 – wurde die Stadt Kempen von einer Bürgermeister-Doppelspitze geführt: Vom Ratsbürgermeister und vom Gemeindebürgermeister; der eine unterstützt vom Stadtrat, der andere von den Vierdern. Zu ihnen kamen noch die Geschworenen – die unterste Ebene derer, die in der Stadt etwas zu sagen hatten. Sie kamen aus der Gruppe der ehemaligen Gemeindebürgermeister und kontrollierten die Rechnungslegung der amtierenden Bürgermeister. Das Zusammenspiel dieser vier Gruppen – Bürgermeister, Stadtrat, Vierder und Geschworene – war einfach, aber effektiv: Der Rat beschloss, die Bürgermeister führten aus, die Vierder und Geschworenen kontrollierten.

     Die bislang letzte Kempener Ratskanne erhielt Detlef Krahé (links) 2018 für 25-jährige Ratszugehörigkeit von Bürgermeister Volker Rübo.

Die bislang letzte Kempener Ratskanne erhielt Detlef Krahé (links) 2018 für 25-jährige Ratszugehörigkeit von Bürgermeister Volker Rübo.

Foto: Ralph Braun

Bei der Ämterbesetzung wurde darauf geachtet, dass jeder Inhaber sein Mandat möglichst nur einmal im Leben wahrnahm und das auch nur für ein Jahr. Trotzdem kam es vor, dass jemand mehrere Male Bürgermeister wurde, denn für ein solches Amt brauchte man Sachkenntnis und Vermögen, und über beides zusammen verfügte nur eine kleine Gruppe der Bürger.

Der Amtsbürgermeister kam aus der Gruppe der Kempener Honoratioren, denn er musste vermögend sein: Wenn der Landesherr, der Kölner Kurfürst, von den Kempenern für seine Unternehmungen kurzfristig ein Darlehen verlangte oder wenn feindliche Truppen in Kriegszeiten Geldzahlungen erpressten, musste er der Stadt die geforderten Geldzahlungen vorstrecken können. Der Amtsbürgermeister leitete die Sitzungen des Stadtrates. Zusammen mit dem Gemeindebürgermeister überwachte er, ob die Bestimmungen des Ortsrechts eingehalten wurden. Beide kontrollierten die Preise in der Stadt und den Handel auf dem Markt, der eine wichtige Quelle des städtischen Wohlstands war.

Der Gemeindebürgermeister regelte in Zusammenarbeit mit den so genannten Vierdern, den Vorstehern der vier Stadtteile, deren Angelegenheiten. Die Vierder waren für den Straßenbau in ihrem Viertel verantwortlich, vor allem aber für die Verwaltung ihres Stadtviertel-Vermögens. Jedes Quartier besaß nämlich Grundeigentum. Um die Stadtmauer liefen ja zwei Wassergräben, und der Geländestreifen zwischen ihnen – der heutige Grüngürtel – wurde vom jeweils anschließenden Viertel an Interessenten zur Nutzung verpachtet. Der Gemeindebürgermeister organisierte zusammen mit den Vierdern die Entrichtung der Steuern. Die Vierder führten die Steuerlisten ihrer Viertel, in denen jeder Bürger nach seinem Vermögen eingestuft war: Wer mehr besaß, musste auch mehr Steuern zahlen. In ihren Vierteln zogen die Vierder die Landes- und die Gemeindesteuer persönlich ein. Zahlte jemand nicht, hängten sie ihm die Haustür aus und trugen sie zum Rathaus. Erst wenn die Abgaben entrichtet waren, gab der Bürgermeister die Tür wieder zurück.

1294 werden die ersten Kempener Bürgermeister erwähnt, aber zu ihnen ist bald eine zweite Einrichtung gekommen. Am Montag, 31. Mai 1322 – es ist der Tag nach dem Pfingstfest, das damals nur an einem Sonntag gefeiert wurde – wählen die Bürger der Stadt Kempen ihren ersten Rat. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Selbstständigkeit ihrer Stadt. Denn bis dahin wurde die städtische Bevölkerung nur durch ihre beiden Bürgermeister vertreten. Neben ihnen gab es die Schöffen des kurfürstlichen Gerichts, die in die Verwaltung der Stadt Kempen oft genug hineinregierten. Wenn geklärt werden musste, wie die Stadt Kempen und ihr Umland gemeinsame Lasten untereinander aufteilten, zum Beispiel, wie hoch der jeweilige Anteil an Zahlungen sein sollte, die der Landesherr von ihnen verlangte, dann haben die Schöffen oft im Sinne der umliegenden bäuerlichen Gemeinden, der Honschaften, entschieden. Also zu Ungunsten der Stadt.

Der Stadtrat, den es jetzt gibt, vertritt nur noch die Interessen der in der Stadt ansässigen Bürger. Allerdings besteht er zum großen Teil aus Männern, die umfangreiche Güter im Kempener Umland haben. Das zeigt, wie eng verwoben die Stadt damals noch mit ihrer bäuerlichen Nachbarschaft ist. Die rasche Zunahme der städtischen Bevölkerung ist ja nicht nur durch steigende Geburtenziffern zustande gekommen. Ein großer Teil der Menschen, die hier wohnen, ist vom Land in das aufblühende Gemeinwesen gezogen. Einmal lässt es sich hier besser leben: Es gibt die Pfarrkirche, vor der man sich nach dem Gottesdienst trifft und soziale Kontakte pflegt. Es gibt Wirtshäuser, Läden von Handwerkern und Verkaufsaktionen auf öffentlichen Plätzen – Vorläufer der späteren Märkte. In der Stadt kann man auch mehr Geld verdienen: Vor allem Handwerker und Gutsbesitzer, die ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse verkaufen wollen, finden hier Abnehmer für ihre Produkte.

Entsprechend stammen 1322 elf der 19 in den Stadtrat Gewählten aus dem Kempener Umland. Teilweise sind sie adelige Dienstmänner des Kölner Erzbischofs und besitzen Höfe vor den Toren der Stadt. Aber als Einwohner der jungen Stadt Kempen befinden sie sich im Brennpunkt des Geschehens. Hier können sie mit Kaufleuten Handel treiben und mit den städtischen Bürgermeistern und den kurfürstlichen Beamten über politische Entscheidungen diskutieren. Viel besser, als wenn sie weiterhin abgelegen auf ihren Landgütern leben würden. Kurz: Wichtige Persönlichkeiten aus dem Kempener Umland zieht es damals in die zukunftsträchtige Stadt Kempen, was deren Entwicklung beträchtlich fördert.

Indes: Dieses erste Ratsgremium, das 1322 gewählt wurde, war kein Ratskollegium im engeren Sinne. Es war vielmehr ein Team geeigneter Bürger, die von der Bevölkerung zur Weiterentwicklung der jungen Stadt Kempen bestimmt worden waren. Der Rat von 1322 hat nämlich 19 Mitglieder. Später wird er nur noch aus fünf bis sieben Bürgern bestehen. Der Grund für den außergewöhnlichen Umfang dieses ersten Vaters aller Kempener Stadträte: Die 1322 gewählten Bürger sind nur zum Teil wirkliche Ratsherren, sie bestehen aus zwei unterschiedlichen Gruppen. Die Urkunde, die sie aufführt, nennt sie in ihrer lateinischen Sprache „Consules et Provisores“. Wie ist das zu deuten? „Consules“, das sind Ratsherren; aber „Provisores“? Der lateinische Begriff Provisor bedeutet damals in der Hauptsache „Verwalter“ oder „Vorsteher“. Wahrscheinlich waren die 1322 genannten Provisoren Repräsentanten der schon bestehenden, einzelnen Stadtbezirke, also Vorläufer der Vierder, die wir bei der Wahl des Gemeindebürgermeisters kennen gelernt haben. Darunter müssen tüchtige Kaufleute und Handwerker gewesen sein.

Und die wurden gebraucht, denn wichtige Aufgaben standen an. Wir dürfen nicht vergessen: 1322 ist genau der Zeitpunkt, in dem Kempen sich anschickt, ein Mammutprojekt zu stemmen: Den Bau seiner prächtigen Befestigung aus einer Ringmauer, 20 Türmen, vier Torburgen und einem doppelten Wassergraben. Für ein solches Projekt braucht man Finanzen, Dienstleistungen und den Rat erfahrener Männer. Diese drei Elemente für die Entwicklung der Stadt Kempen werden die „Provisores“ von 1322 den Ratsherren wohl zur Verfügung gestellt haben.

Eine demokratische Vertretung in unserem heutigen Sinne war der alte Kempener Stadtrat nicht. 1322 ist nämlich das einzige Mal, dass wir im alten Kempen von einer wirklichen Wahl des Rates erfahren. Künftig wird der Rat nicht mehr von der Bevölkerung gewählt. Stattdessen ergänzt der Stadtrat sich durch Nachwahl: Ist ein Ratsmitglied verstorben, wird sein Nachfolger durch die übrigen Mitglieder des Rates bestimmt. So wird sichergestellt, dass sachkundige und einflussreiche Einwohner in den Rat kommen. Andererseits sind jetzt persönliche Beziehungen wichtig: Hier findet das, was man später den „Kemp’sche Klüngel“ nennen wird, seinen Anfang. Unter den Ratsmitgliedern sind keine Adeligen mehr; alle sind bürgerlicher Herkunft. Das zeugt vom gestiegenen Selbstbewusstsein der Stadt Kempener Bevölkerung gegenüber dem Umland.

Der ruhende Pol im jährlich wechselnden Stadtregiment war der Stadtschreiber, damals der einzige hauptamtliche Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Dazu wählte man einen studierten Juristen, der bereits Berufserfahrung als Notar gesammelt hatte. 1371 ist er erstmals überliefert. Als sprachgewandter Mann hielt er bei feierlichen Anlässen die Reden. Daneben gab es noch einige Stadtbedienstete, die im Hauptberuf Handwerker waren, aber als Nebentätigkeit Aufgaben im Auftrag der Kommune wahrnahmen wie den Stadtzimmermann und den Waagemeister, die beiden Boten oder die vier Torwächter. Mit den beiden Bürgermeistern hatte Kempens Stadtverwaltung damals ein Dutzend Mitarbeiter, bei etwa 2000 Einwohnern. Das entsprach 0,6 Prozent der Bürgerschaft.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort