Serie Stolpersteine Für St. Hubert (6) Die Propaganda zeigte Wirkung

Kempen · Die Propaganda tat ihre Wirkung. Es waren Nachbarn, Nazis und Beamte, die Max Mendel aus St. Hubert mit haltlosen Anschuldigungen in die Gaskammer von Auschwitz brachten. Der Weg dahin ist im Landesarchiv in Duisburg und im Kreisarchiv Viersen in Einzelheiten nachzulesen.

 Hoch zu Ross ziehen Nationalsozialisten über die Königstraße in St. Hubert. Das Haus links - mit davor stehendem Fahrrad - gehört dem Viehhändler Max Mendel.

Hoch zu Ross ziehen Nationalsozialisten über die Königstraße in St. Hubert. Das Haus links - mit davor stehendem Fahrrad - gehört dem Viehhändler Max Mendel.

Foto: Heimatverein St. Hubert/Recherche: Jupp Pasch

Kempen Max Mendel wurde am 5. Februar 1894 in St. Hubert geboren, wo er auch die Volksschule besuchte. 1912 trat er nach entsprechender Ausbildung in das Geschäft seines Vaters, des Viehhändlers Alex Mendel, ein. Vier Jahre lang machte er als Soldat den Ersten Weltkrieg mit, verlor am 17. August 1916 in der Schlacht an der Somme durch einen Granatsplitter den Mittelhandknochen und den Mittelfinger der rechten Hand. Dafür bekam er das Verwundetenabzeichen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges betreibt Max Mendel in seinem Geburtsort ein eigenes, erfolgreiches Viehhandelsgeschäft. Am 14. September 1934 heiratet er, 40 Jahre alt, die 24 Jahre alte, katholische Maria Koenen aus Nieukerk. Die Hochzeit findet nicht am Wohnort eines der beiden Eheleute statt, sondern in Krefeld-Uerdingen. Man möchte vermeiden, die nationalsozialistischen Machthaber zu provozieren, die mittlerweile das Sagen haben. Denn noch vor ihrer Hochzeit mit Max Mendel ist seine Verlobte Maria Koenen in ihrem Wohnort Nieukerk von den Nazis durch die Straßen getrieben worden, und ebenso ihre Schwester Paula, die mit Max Mendels Bruder Siegfried befreundet ist. Jedem der beiden Mädchen hat man dabei ein Schild umgehängt mit der Aufschrift: "Ich bin am Ort das größte Schwein/und lass' mich nur mit Juden ein." Aber ihren Wohnsitz nehmen die Mendels in St. Hubert, im Hause Königstraße 12. Sechs Kinder gehen aus ihrer glücklichen Ehe hervor.

Zunächst gibt es keine Probleme. Max Mendel gilt als tüchtig, seine Familie ist angesehen im Ort. Aber bald macht sich auch hier offener Antisemitismus breit. Drei Jahre nach der Machtergreifung kauft kein Metzger mehr Vieh bei ihm. Am 27. August 1938 wird ihm sein Gewerbe offiziell entzogen. Einnahmen hat er keine mehr, Steuern zahlen muss er trotzdem. Bald ist er damit im Rückstand, und Bürgermeister Josef Greven, der führende Nationalsozialist im Ort, pfändet ihm seine letzten sechs Schweine, die im Stall zur Mast stehen. Greven betreibt eine Gastwirtschaft, und seine Steuerschuld ist noch größer als die des Viehhändlers. Aber ihm wird sie vom St. Huberter Gemeinderat erlassen.

Am Nachmittag des 10. November 1938 stürmen SA-Männer unter Anführung des Kempener Polizei-Hauptwachtmeisters Ludwig Oberdieck im Zuge der "Kristallnacht" die Mendelsche Wohnung. Sie zerschlagen Fensterscheiben, Möbel und Bilder, nehmen Max Mendels Motorrad mit, das er für seinen Viehhandel angeschafft hat. Auf die Kinder, die in ihren Betten liegen, ergießen sich die Splitter des zerbrochenen Glases. Einen anderen hätte das alles deprimiert, ihn mit dem Schicksal hadern lassen. Nicht Max Mendel. Im Gedächtnis der Zeitzeugen lebt er fort als "freundlicher Mann, der viel Humor besaß".

Seit dem 4. März 1941 ist vorgeschrieben, dass jeder arbeitsfähige Jude Zwangsarbeit leisten muss. Wegen seiner Kriegsverletzung hat Max Mendel eine amtlich bescheinigte Behinderung von 30 Prozent. Trotzdem weist das Arbeitsamt den St. Huberter als Hilfsarbeiter einer Krefelder Papiersackfabrik zu. Sein Verdienst ist mit 55 Pfennig die Stunde lächerlich niedrig, auch fühlt er sich als Jude schikaniert. Nach einer Woche zieht er sich eine Blutvergiftung zu, legt ein ärztliches Attest vor. Auf dem Arbeitsamt bittet er um eine andere Stelle. Vergeblich. Dann wird seine Frau Maria krank, sie muss fünf Kinder versorgen, ein sechstes ist unterwegs. Sie bittet ihn, zu Hause zu bleiben, ihr zu helfen. Das tut er auch. Wem fallen sie denn zur Last? Dem NS-Staat auf keinen Fall. Eine Tante, die Witwe Rosalie Mendel in Magdeburg, unterstützt die Familie finanziell.

Aber acht Jahre rassistischer Propaganda haben aus dem Mitbürger und Nachbarn einen Ausgegrenzten gemacht. Viele in St. Hubert nehmen Max Mendel nicht mehr als Mitbürger wahr, sondern als "den Juden". Man sucht einen Anlass, ihm eins auszuwischen. Seit dem 19. September 1941 ist den Juden das Tragen des "Judensterns" vorgeschrieben. Max Mendel ist dazu nicht verpflichtet. Er lebt ja in einer sogenannten Mischehe mit einer, wie man es damals nennt, "arischen" Frau und nicht-jüdisch erzogenen Kindern. Ende September 1942 wird dem Kempener Arbeitsamt aus St. Hubert gemeldet, dass "der Jude Mendel auch ohne Davidsstern hier herumläuft". Noch geht die Denunziation ins Leere. Max Mendel hat gegen keine Vorschrift verstoßen.

Bleibt die angebliche Verweigerung der Arbeit. In den Augen einiger antisemitisch eingestellter Nachbarn in St. Hubert entspringt das Fernbleiben von der Zwangsarbeit "jüdischer Arbeitsscheu". Als Max Mendel dann mehrere Male gesehen wird, wie er vor der Haustür steht - wahrscheinlich hat er auf jemanden gewartet - kocht bei einigen linientreuen "Volksgenossen" die Volksseele über. Das sei eine Frechheit, heißt es in der St. Huberter NS-Ortsgruppe. Sie fürchtet um das Ansehen des nationalsozialistischen Staates. Um keinen Preis darf der Eindruck entstehen, "der Jude" könnte machen, was er wollte. Führende Nazis stoßen Drohungen aus, die nun in der Gemeinde herumgehen wie ein Lauffeuer. Max Mendel bekommt Angst. Provozieren will er beileibe nicht. Er und seine Frau schlafen nun angezogen auf dem Bett, weil sie jederzeit mit einer Verhaftung rechnen. Schließlich findet er ein Versteck bei einem Nachbarn, der zehn Häuser weiter wohnt, beim Bäckermeister Josef Pasch. Als dort eine Durchsuchung droht, nimmt ihn der Obstbauer Tillman Peters, Hahnendyk 2, für eine Weile auf. Nach einiger Zeit, als die Lage sich beruhigt zu haben scheint, kehrt Max Mendel nach Hause zurück.

Er weiß nicht, dass er mittlerweile unter Beobachtung steht. Über Ernst Sipmann, Inspektor am Kempener Arbeitsamt, und den Kempener Landrat Jakob Odenthal geht am 1. Oktober 1942 eine Anzeige über seine angebliche Arbeitsverweigerung bei der Gestapo ein. Die fordert den Leiter der Kempener Polizei, den Polizeimeister Walter Rummler, zu einem Bericht auf. Am 4. November 1942 wird Max Mendel von der Polizei verhaftet und nach Anrath ins Zuchthaus gebracht.

Noch am selben Tag erstattet der Kempener Polizeichef der Krefelder Gestapo einen ausführlichen Bericht. Dessen Kernpassage lautet: "Der Ortsgruppenleiter der NSDAP in St. Hubert teilte mir auf Anfrage mit, dass Mendel mit offensichtlicher Frechheit häufig nichtstuend vor seiner Haustür gestanden habe, während deutsche Volksgenossen von und zur Arbeit gingen." Das ist Max Mendels Todesurteil. Am 13. Januar 1943 entscheidet das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, ihn nach Auschwitz zu überführen.

Max Mendels Familie hatte von all dem keine Ahnung. Am 4. November 1942 war er vom Kempener Polizeirevier nicht mehr zurückgekommen. Auf der Kempener Wache, wo seine Frau in ihrer Angst nachfragte, teilte man ihr zunächst mit, er würde nun vorläufig nicht zurückkommen, und schickte sie fort. Dann wurde er ins Anrather Zuchthaus verbracht. Hier besuchte ihn Maria Mendel zwischen dem 23. November 1942 und dem 5. Februar 1943 siebenmal, mit dem Fahrrad von St. Hubert kommend. Am 4. Januar 1943, morgens um halb fünf, wurde beider Sohn Walter geboren. Noch am selben Tag radelte die junge Mutter nach Anrath, um ihrem Mann das freudige Ereignis mitzuteilen, und zwei Tage später erneut.

Am 6. Februar 1943 wurde Max Mendel aus Anrath nach Auschwitz deportiert, wo er am 13. Februar 1943 eintraf. Hier ist er am 16. April 1943 ermordet worden. Seine Frau hat das aber erst im Mai 1943 von einem Kempener Polizisten erfahren: Max Mendel sei im Konzentrationslager an Herzversagen gestorben. Seine Leiche sei auf dem Urnenfriedhof in Auschwitz beigesetzt worden. In Wirklichkeit war nur noch anonyme Asche übrig, inmitten der Aschereste unzähliger anderer, verscharrt auf dem KZ-Gelände in Auschwitz.

(hk-)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort