Interview Michael Harbaum „Manche wollen nur saubere Spritzen“

Düsseldorf · In Düsseldorf leben zwischen 3000 und 4000 Schwerstabhängige von illegalisierten Substanzen. Der 44-jährige Sozialpädagoge Michael Harbaum war Streetworker und leitet seit 2016 die Drogenhilfe.

 „Wer zur Beratung kommt, hat den Wunsch, etwas zu ändern“, sagt Michael Harbaum.

„Wer zur Beratung kommt, hat den Wunsch, etwas zu ändern“, sagt Michael Harbaum.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

Herr Harbaum, gehen Sie gerne zur Arbeit?

Michael Harbaum Fast immer!

Seit 1971 kümmert sich die Drogenhilfe um Suchtkranke in Düsseldorf. Wie ist die Situation aktuell?

Harbaum Ich würde sagen, relativ stabil. Meiner Schätzung nach gibt es in Düsseldorf zwischen 3000 und 4000 Schwerstabhängige von illegalisierten Substanzen. Wir erreichen jährlich 1800 von ihnen. In der Szene werden vor allem Heroin und Kokain konsumiert. Fentanyl – das synthetische Opioid, das in den USA in den vergangenen Jahren Zehntausende Tote forderte – hat sich hier zum Glück nicht durchgesetzt. Das regelt die Szene offenbar selbst. Eine interessante Entwicklung ist, dass inzwischen deutlich öfter Drogen geraucht statt gespritzt werden. Das ist insofern positiv, als dass der Konsum sicherer ist. Eine Überdosis ist beim Rauchen weniger wahrscheinlich. In den 4000 sind die Cannabiskonsument/innen nicht drin. Die gehören aber auch nicht zur Drogenszene. Davon gibt’s auch sicherlich deutlich mehr.

Was genau macht die Drogenhilfe?

Harbaum Wir haben vier wesentliche Arbeitsfelder: Überlebenshilfe, Beratung, betreutes Wohnen und Prävention – die bieten wir in Kooperation mit der Diakonie und der Caritas an.  Die Überlebenshilfe ist der Bereich, den die Öffentlichkeit meistens am spannendsten findet, weil dazu zum Beispiel der Konsumraum gehört, wo Menschen mit Suchterkrankung Spritzen bekommen und sicher konsumieren können. Aber die anderen drei Felder sind uns mindestens ebenso wichtig. Es ist nur viel schwerer, dafür Aufmerksamkeit und damit Unterstützung zu bekommen.

Sprechen wir über Ihr Beratungsangebot. An wen richtet es sich?

Harbaum Das ist sehr breit: Wir haben eine Gruppe für Jugendliche, die wir gerade aufbauen. Wir beraten Kokainisten, und Cannabis-Abhängige und deren Umfelder. Wir haben eine Gruppe für Angehörige von Suchtkranken, eine interkulturelle Sprechstunde – auch unter Migranten gibt es Drogensüchtige. Und wir beraten in der Justizvollzugsanstalt. Außerdem beraten wir seit vielen Jahren externe Kolleg/innen die am Rande ihrer täglichen Arbeit mit dem Thema Sucht in Kontakt kommen, beispielsweise in Jugendwohngruppen.

Wer sich für Beratung entscheidet, hat schon einen großen Schritt getan und sich zur Abstinenz entschlossen, oder?

Harbaum Nicht unbedingt. Aber wer zur Beratung kommt, hat den Wunsch, etwas zu ändern. Abstinenz ist ein mögliches Ziel. Aber wir unterstützen auch die, die ihren Konsum zunächst reduzieren wollen. Kontrolle zum selbstbestimmten Substanzkonsum(KISS) heißt zum Beispiel eins unserer Angebote, das bei manchen Teilnehmenden dann in der Abstinenz endet. Auch wer es schafft, kontrolliert zu konsumieren, hat durch die Beratung gewonnen.

Der Gesellschaft fällt es schwer, die Existenz von Drogensucht zu akzeptieren.

Harbaum Sucht ist eine Erkrankung. Das muss man begreifen. Auf der anderen Seite muss ich auch sagen: Ich hatte in meinem Studium viel über Akzeptanz gelesen und geschrieben. Als ich dann bei der Drogenhilfe anfing und gewissermaßen in der Niederschwelligkeit ankam, also Menschen beriet, die auf der Straße leben und schwerstabhängig sind, musste ich schon ein paar Mal schlucken. Wenn man dann die Verelendung sieht, in der viele Suchtkranke sich befinden, überdenkt man noch mal einiges. Dann habe ich aber wiederum begriffen: Ich sehe hier auch nur einen kleinen Ausschnitt. Viele Suchtkranke sind unauffällig und leben ganz normal in der Gesellschaft.

Das entspricht nicht dem Klischee

Harbaum Sucht zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten. Kokainabhängige beispielsweise sind oft jahrelang sehr leistungsfähige Mitglieder der Gesellschaft. Sie haben immer genug Geld, sie haben immer einen Job. Aber meistens weiß die Familie nicht Bescheid. Wir hatten hier einen Außendienstler als Klienten, der hat jahrelang Heroin geraucht. Dann brach ihm seine Quelle weg und er versuchte, sich Drogen auf der Straße zu beschaffen. Als er erwischt wurde, verlor er seinen Job. Seine Familie wandte sich ab. Er wurde nach ganz unten durchgereicht.

Was können Sie für so jemanden tun?

Harbaum Es kommt darauf an, wie viel Hilfe jemand haben möchte. Es gibt Menschen, die möchten nur die Basisversorgung – sprich: saubere Spritzen, einen Ort zum Konsumieren, vielleicht mal eine Mahlzeit oder ein Bett zum Schlafen. Das muss man akzeptieren.

Wie geht das?

Harbaum Sagen wir so: Es ist höchst gewöhnungsbedürftig, Menschen versterben zu sehen, bevor sie an dem Punkt sind, dass sie Hilfe annehmen können. Aber man gewöhnt sich eben doch daran. Damit meine ich nicht, dass man abstumpft. Aber es wird normaler, dass jemand es nicht schafft. Und es rückt persönliche Probleme stark ins richtige Verhältnis. Wobei man sich natürlich schon manchmal wünscht, dass Menschen einen vernünftigeren Lebensstil annehmen, der ihnen nicht so sehr schadet.

Ist Drogensucht eine Frage der Vernunft?

Harbaum Nein, natürlich nicht. Es wirkt für Außenstehende vielleicht so, weil sie eben nicht suchtkrank sind. Als Nicht-Süchtiger kann man nicht verstehen, warum jemand, der beispielsweise schon total viel erreicht hat mit seiner Abstinenz, der einen Job, eine Wohnung, eine Freundin hat, auf einmal alles dafür aufgibt und wieder anfängt zu konsumieren. Ich persönlich kann das nicht verstehen, weiß aber  natürlich durch meine Jahre im Job, dass das durch die Krankheit erklärbar ist. Man entwickelt ein  Gefühl dafür, was da passiert.

Lässt sich Drogensucht verhindern?

Harbaum Wir werden niemals in einer Gesellschaft vollkommen ohne Suchtkranke leben. Die Wahrheit ist ja auch: Wir alle sind nach irgendetwas süchtig – sei es Anerkennung oder Süßigkeiten oder sonst was. Wenn Sie gleich weg sind, schaue ich garantiert als erstes auf mein Handy. Aber es gibt Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit einer Suchterkrankung senken. Zum Beispiel ein stabiles soziales Umfeld. Es ist wichtig, dass Menschen in frühester Kindheit lernen, wie es ist, geliebt zu werden. Sie müssen aber auch lernen, dass zu Liebe auch Kritik gehört und dass es die Liebe nicht infrage stellt, kritisiert zu werden.
Ebenfalls wichtig ist es, den Umgang mit Bedürfnissen und Konsum zu lernen. Es gibt ein spannendes Projekt für den Kindergarten: Gemeinsam mit den Kindern werden alle Spielsachen weggeräumt. Dann ist die Frage: Was will ich wirklich? Was brauche ich, um zu spielen? Es geht um Kommunikation, um Kreativität.

Was sind die Erfolgserlebnisse bei der Drogenhilfe?

Harbaum Manchmal gibt es Menschen, auf die hätte man nie einen Cent gewettet – und plötzlich schaffen die es doch. Ich kenne einen Mann, der war 20 Jahre lang schwerstabhängig von Heroin und Kokain. Er war einer der letzten Fälle, die ich im betreuten Wohnen noch selbst betreut habe. Er ist seit fast drei Jahren abstinent,  hat einen Job und seinen Führerschein zurück. So lange er clean bleibt, lade ich ihn zwei Mal im Jahr zum Essen ein. Ich freue mich jedes Mal wieder, wenn es so weit ist.

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