Textilmuseum in Bocholt Reise in frühere Arbeitswelten

Bocholt · Im Textilmuseum in Bocholt kann man erleben, wie im Zeitalter der Dampfmaschine gewebt wurde. Das Haus schlägt aber auch den Bogen ins Heute – etwa zu Mode von Stephan Hann.

 Weber bei einer Vorführung am Webstuhl im LWL-Museum Textilwerk Bocholt

Weber bei einer Vorführung am Webstuhl im LWL-Museum Textilwerk Bocholt

Foto: LWL-Industriemuseum / Martin Holtappels

Selbst in einem Textilmuseum muss Mode nicht aus Stoff sein. Das beweist eine neue Sonderausstellung, die ab Ende Mai im Textilmuseum Bocholt zu sehen sein wird. Der Berliner Künstler Stephan Hann macht aus Alltagsgegenständen wie Tetrapaks, Telefonbuchseiten und Medikamentenverpackung Haute Couture. Er schneidert und montiert aus diesen minderwertigen Stoffen elegante Hosenanzüge, raffinierte Kostüme, festliche Roben mit klassischen Schnitten, macht also aus Materialien der Vergänglichkeit Kleidung von bleibendem Wert.

Die Sonderausstellung „Fashion Material“ (ab 25. Mai) ist aber nur ein Grund, das Textilmuseum in Bocholt zu besuchen und die Geschichte der Garn- und Stoffherstellung zu erkunden. Das Museum besteht aus zwei Komplexen, der Weberei und der Spinnerei. Betritt man die Gebäude, in denen die Weberei untergebracht ist, kann man sich mit einer Karte ausrüsten lassen, die einen an digitalen Stationen im Museum in ein Rollenspiel verwickelt. Die Besucher schlüpfen in unterschiedliche Rollen und lernen 13 Menschen kennen, die an unterschiedlichen Stellen in der Weberei arbeiten. Darunter eine Passiererin, die hinter einem Vorhang feinster Fäden auf einem hölzernen Bock arbeitete, der Heizer an der Dampfmaschine und ein Büroangestellter.

Die digitale Aufbereitung von Informationen geschieht im gesamten Museum angenehm dezent. Im Mittelpunkt stehen die historischen Maschinen, die noch funktionstüchtig sind. Das beginnt in der imposanten Kraftzentrale, in der eine raumfüllende Dampfmaschine aufgebaut ist. Heute wird sie elektrisch betrieben, was den Vorteil hat, dass sie leicht anzustellen ist. Dann drehen sich die riesigen, schwarz lackierten Räder und setzen die ledernen Transmissionsriemen in Bewegung, die durch den Websaal surren und die Webstühle antreiben. 23 davon stehen im Websaal in engen Reihen und geben einen Eindruck von den Arbeitsbedingungen im 19. Jahrhundert. In der Ausstellung haben auch ausgebildete Weber Dienst, die die Maschinen erklären und aus eigener Arbeitserfahrung erzählen können. Beeindruckend, wenn sie die Webstühle in Gang setzen, die Schütze durch die Fächer zwischen den Kettfäden fliegen und sich im Raum ein hundertfaches Klackern der Maschinen erhebt. Auch moderne Webstühle sind im Museum aufgebaut, die mit Hilfe von Luftdruck noch vielfach schneller arbeiten. Das Auge hat keine Chance, den Lauf des Garns zu verfolgen, sieht nur, wie der Stoff wächst und wächst.

Im TextilWerk Bocholt lässt sich Vergangenheit hautnah erleben, dabei ist die Produktionshalle gar nicht wirklich alt. Sie ist der Nachbau eines Websaals der Weberei Gebr. Essing in Rhede. Mit 50 Webstühlen hatte die Firma 1891 den Betrieb aufgenommen. Als die Gebäude 1985 dem Strukturwandel zum Opfer fielen, konnte das LWL-Industriemuseum die gußeisernen Säulen des Websaals und andere Original-Einbauten retten. So hat das Museum die Vorteile moderner Gebäude, das Interieur ist historisch – und lässt das 19. Jahrhundert lebendig werden.

Neben dem Websaal gibt es eine Werkstatt, in der allerhand Handwerkszeug bereit liegt, als werde dort noch heute gehämmert und geschmiedet. Der Raum wurde vor einiger Zeit neu gestaltet. Das Werkzeug hatte sich wundersam vermehrt – vermutlich haben Besucher Stücke aus dem eigenen Bestand dort eingeschmuggelt. Beleg für die Identifikation mit „ihrem Museum“. Nun ist der Raum etwas entschlackt und viele Maschinen lassen sich in Bewegung setzen. Dazu gibt es ein Kontor und draußen auf dem Gelände Muster-Arbeiterhäuser und Gärten, in denen Hühner und Kaninchen gehalten werden.

  Modell „Fly Me to the Moon“, Tetra Pak, 2012.

 Modell „Fly Me to the Moon“, Tetra Pak, 2012.

Foto: Maik Kern/ Stephan Hann
 Stephan Hann: „Silver Bird II“ aus Medikamenten-Verpackungen, 2015.

Stephan Hann: „Silver Bird II“ aus Medikamenten-Verpackungen, 2015.

Foto: Maik Kern

Auf der anderen Seite des Flusses Aa, der durch Bocholt fließt, erhebt sich der viergeschossige Backsteinbau der ehemaligen Spinnerei Herding. In diesem Komplex geht es unter anderem um Mode, ihre Macher und die Geschichte regionaler Textilunternehmer. Dort sind ab Ende Mai auch die ungewöhnlichen Kreationen von Stephan Hann zu sehen. So landet der Besucher entlang feinster Fäden in der Gegenwart – bei Mode aus Stoffen des Alltags.

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