Der „Piano Man“ feiert 70. Geburtstag Billy Joel - der unzeitgemäße Rebell

New York · Der große Geschichtenerzähler Billy Joel ist mit 70 populärer denn je. Dabei produzierte er stets am Zeitgeist vorbei.

 Billy Joel im Oktober 1989 in Frankfurt.

Billy Joel im Oktober 1989 in Frankfurt.

Foto: dpa

Die Szene, die das Phänomen Billy Joel am besten erklärt und die bei einer dringend gebotenen Verfilmung seines Lebens als Prolog noch vor dem Vorspann gezeigt werden sollte, ereignete sich vor mehr als 50 Jahren. Joel war 17 damals, er wuchs bei seiner Mutter auf, und weil nie Geld da war, verdiente er sich etwas dazu, indem er auf Austernschiffen vor Long Island aushalf. Jeden Tag tuckerte der Kahn an den Villen der Küste vorbei, und jedes Mal zeigte Joel auf ein bestimmtes Haus in Oyster Bay, erhob die Faust und rief: „Ihr reichen Bastarde!“ In genau diesem Haus lebt er heute.

Billy Joel ist gerade 70 geworden, und was noch gar nicht genug gewürdigt wurde, ist das rebellische Potenzial dieses Mannes, diese melancholisch grundierte Dickköpfigkeit, die ihn stets zum Ziel führte. Seit fünf Jahren hebt er einmal im Monat vom Hubschrauberlandeplatz auf seinem Anwesen ab, um rüber nach New York zu fliegen und im Madison Square Garden aufzutreten. Mehr als hundert Mal hat er das bislang getan, jedes Konzert war ausverkauft. Er ist heute mindestens so populär wie in seiner einträglichsten Phase zwischen 1982 und 1993. Und das, obwohl Joel seit 26 Jahren keine neue Platte mehr veröffentlicht hat. Warum kam da eigentlich nichts mehr? Das Klavier sei manchmal wie ein Ungeheuer mit 88 Zähnen, sagte er in einem Interview. Und dass er nun mal nichts unter seinem Niveau produzieren wolle, nur weil eine Plattenfirma meine, etwas herausbringen zu müssen – so wie Elton John.

Billy Joel hat deutsche Wurzeln, sein jüdischer Großvater Karl Joel eröffnete in Nürnberg einen Wäscheladen, den er bald zu einem Textilversand vergrößerte. Im Dritten Reich übernahm Josef Neckermann das Joelsche Versandhaus und gründete darauf sein Imperium, die Familie Joel wurde nach Auschwitz deportiert. Doch die Großeltern überlebten und gingen nach Amerika. Als Donald Trump vor kurzem eine Neonazi-Demo nicht klar verurteilte, ging Billy Joel mit einem Judenstern auf die Bühne.

Joels Eltern waren Musiker, sie lernten sich bei einer Operninszenierung kennen. Sie trennten sich früh, und als Junge klimperte Billy Joel daheim auf den Klavier. Er wuchs in Levittown auf, was fast New York ist, aber eben noch nicht ganz, und dieses Leben in der Vorstadt besingt er in seinen besten Liedern. Überhaupt ist Joel ja genau genommen gar kein Rockstar. Seine Stücke sind eher Standards als Popsongs, er ist ein Erzähler, und wenn man seinen größten Song noch einmal hört, begreift man, dass das eigentlich eine Kurzgeschichte ist: „Captain Jack“ erzählt von einem 21-Jährigen, der noch bei den Eltern lebt. Es ist Wochenende, große Langeweile und Lethargie, und das ist sehr fein beobachtet und wird mit so viel Liebe dargereicht, dass man die Stimmung leicht als rührselig missverstehen kann.

Die Kritiker haben Joel denn auch gehasst. Als „Naturgewalt des schlechten Geschmacks“ bezeichnete ihn Robert Christgau von der „Village Voice“. Und tatsächlich hat es lange gedauert, bis sich der Erfolg einstelle. 1973 erschien sein Signature-Song „Piano Man“, der jedoch nur Platz 25 der US-Charts erreichte. Billy Joel komponierte stets am Zeitgeist vorbei: Als er begann, regierten Led Zeppelin und Co, dann kam Punk, aber Joel schaute lieber zurück: „My Life“ klingt stark nach den Beatles, „The Longest Time“ ist Doo-Wop, „Vienna“ eine Verneigung vor Kurt Weill, und „Zanzibar“ hat so eine Jazz-Anmutung. 1977 begann dennoch seine große Zeit. Damals veröffentlichte er das Album „The Stranger“ mit den Hits „Movin’ Out“ und „Just The Way You Are“.

Irgendwo zwischen Paul Simon und Bruce Springsteen diffundiert Billy Joel in seiner eigenen Blase. Er hatte mit „Uptown Girl“ und dem Schlagwort-Gedicht „We Didn’t Start The Fire“ massive Hits, er heiratete das Model Christie Brinkley. Und er wunderte sich selbst über all das: „Ich habe mehr Ruhm, als ich verdiene“, sagte er. Das Schicksal warf ihn immer wieder aus der Bahn. Er litt unter Depressionen, wollte sich mit Möbelpolitur vergiften. Er war alkoholabhängig und ging 2015 in den Entzug.

Aber seit einiger Zeit hat man das Gefühl, sein Werk ist zur Klassik versteinert und wird auch unter Kollegen stärker wertgeschätzt. Die Sängerin Pink war neulich bei ihm zu Gast, wie man hört. Sie wollte Songs mit ihrem Idol aufnehmen, aber es kam einfach nichts dabei herum. Die „Los Angeles Times“ sprach Pink darauf an. Ihre Antwort: „Das Problem war, er ist einfach zu gut für mich.“

Billy Joel singt seine Songs heute ein bisschen tiefer als früher. Er lässt sein Publikum über die Setlist abstimmen und erntet bereits bei der Begrüßung heftigen Applaus, wenn er sagt: „Ich habe nichts Neues für Euch, nur den alten Kram.“ Man mag sich gar nicht ausmalen, was los wäre, wenn er ernst machen würde mit dem Plan, den er mal in einem Interview skizzierte: mit seinen Freunden Sting und Don Henley von den Eagles eine Band zu gründen.

Billy Joel ist der Geschichtenerzähler der Mittelschicht. Er hat keine Angst vor Sentimentalität, und am besten ist er als Entertainer. Wer es noch nicht kennt, sollte sich sein Live-Album aus Leningrad anhören. Und wer einen anderen Joel kennenlernen möchte, lege noch einmal „Glass Houses“ aus dem Jahr 1980 auf. Joel erntete damals Hohn und Spott, weil man Einflüsse von New Wave und Post-Punk in einigen Stücken hörte. Heute hingegen klingen sie frisch, ein bisschen nach Elvis Costello.

Das ist ja eigentlich eine sehr schöne Sache für einen Rentner: einmal im Monat vor vollem Haus in New York aufzutreten. Soll er ruhig noch lange machen. Und wird er sicher auch. Auf die Frage nach dem Geheimnis eines langen Lebens verriet er nämlich einst sein Geheimrezept: „Don’t die.“

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