„Alles in allem“ Blixa Bargeld darf nicht mehr auf Schrottplätze

Der Sänger der Einstürzende Neubauten über das Jubiläumsalbum zum 40. Geburtstag seiner Band. Das neue Album ist gut, das Lied „Zivlisatorisches Missgeschick“ klingt, als wäre es von ganz früher.

 Blixa Bargeld, Kopf der Einstürzenden Neubauten.

Blixa Bargeld, Kopf der Einstürzenden Neubauten.

Foto: Mote Sinabel

Um das Ausmaß der Tragik zu begreifen, muss man erwähnen, dass die Einstürzenden Neubauten einst vor allem mit Metall musiziert haben. Manchmal warfen sie einen Einkaufswagen über die Bühne, weil dessen Sound so schön zu Stücken wie „Tanz Debil“ passte. Inzwischen gibt es aber ein Problem: Die Neubauten werden nicht mehr auf Schrottplätze gelassen. Bis an die polnische Grenze sind sie gereist. Nützte nichts: „Es lässt einen keiner mehr drauf“, sagt Blixa Bargeld. Warum nicht? Er zuckt mit den Schultern: „Versicherungstechnisch.“

Blixa Bargeld ist Kopf der Einstürzenden Neubauten. Er ist 61 Jahre alt und heißt eigentlich Christian Emmerich. Er sitzt in einem bequem aussehenden Sessel vor seinem Computer in Berlin. Das Skype-Gespräch führt er in seinem Arbeitszimmer, das von einer mächtigen Bücherwand beherrscht wird. Auf welchen Instrumenten spielen die Neubauten denn nun? „Auf Migrantenkoffern“, antwortet er. So nenne der Berliner Volksmund diese kastenartigen Taschen aus kariertem Plastikstoff. „Wir befüllen sie mit Containern, die wiederum mit Erbsen, Nägeln oder Münzen befüllt sind.“ Und das klingt gut. „Die Dinge müssen etwas von sich preisgeben. Diese Koffer hätten sich nie träumen lassen, dass sie mal Musikinstrumente werden.“

Die Band hat ein neues Album veröffentlicht, „Alles in Allem“ heißt es, und es ist die Platte zum 40. Jubiläum der Gruppe. 1980 produzierte sie in West-Berlin ihre erste Single im Hohlraum einer Autobahnbrücke, der Titel lautete „Für den Untergang“. Ihre erste LP „Kollaps“ spielte sie mit Hammer, Bohrer und Säge ein. Sie inspirierte Gruppen wie Depeche Mode, gehört mit Kraftwerk und Can zu den international einflussreichsten Popmusikern Deutschlands. Und ab den 90er Jahren sang Bargeld auch noch die schönsten Texte. Bitte unbedingt „Stella Maris“ anhören, das Duett mit Meret Becker. Zwei Träumer verpassen einander im Schlaf, weil sie nicht mehr wissen, ob sie sich am Süd- oder Nordpol verabredet hatten: „Es gibt nichts Interessantes hier / Die Ruinen von Atlantis nur / Aber keine Spur von dir.“

Herr Bargeld, wie schreiben Sie Ihre Texte? „Unterwegs schreibe ich mit der Hand in Notizbücher. Ich übertrage das dann in den Computer und drucke es aus, und wenn ich genug habe, lasse ich es binden.“ Er zeigt einen der schwarzen Bände, und man stellt sich vor, dass man als zuständiger Buchbinder versucht wäre, den Inhalt vor Abgabe heimlich zu kopieren. Aber das wäre nicht rechtens.

Ob er sich vor dem Liederschreiben eingroovt mit guter Literatur? Nö, sagt er. „Ich lese so gut wie gar keine zeitgenössische Literatur. Ich liebe Wissenschaftsprosa. Zum Beispiel diese hier.“ Er hält einen Rowohlt-Band in die Kamera: „Die Ordnung der Zeit“ von Carlo Rovelli. Haben Sie keinen literarischen Hausheiligen? Da wird er energisch: „Hausheiliger?“, ruft er empört. „Brecht! Menschheitsheiliger!“

Das neue Album ist gut, das Lied „Zivilisatorisches Missgeschick“ klingt, als wäre es von ganz früher. Ja, sagt Bargeld, das liege daran, dass es auf einem Kartensystem basiere, das er erfunden habe. Auf 600 Karten notierte Bargeld je einen Begriff, der konstituierend ist für die Musik der Band. Bargelds Ehefrau, die chinesische Mathematikerin Erin Zhu, schiebt ein Handy ins Bild, darauf Fotos von Karten mit der Aufschrift „laut/leise“, „Plastik“, „Hohlkörper“, „schnell“. Jedes Bandmitglied ziehe eine Karte und mache sich darauf einen Reim.

Wie Bargeld das Wort „Wolke“ im Titelstück singt, das erinnert an Hildegard Knef. Schlimm? „Schön!“, sagt er. „Ist ja nichts Schlimmes. Knef ist mir recht. Marlene ist mir auch recht.“ Apropos Marlene: Bekommen wir je den großen Berlin-Roman von Ihnen zu lesen? Seine Ehefrau ruft aus dem Hintergrund: „Nein!“ Bargeld lacht: „Sie meint, ich schreibe so langsam, da würde ich 30 Jahre dran sitzen.“

Hört man also weiter seine Platten. Ist auch nicht schlecht.

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